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Leseprobe "Dorfluft" (1988/2013)

 

Prolog


Gerd glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Das ganze Dorf schien auf den Beinen. Auf dem breiten, mit Kastanien bestandenen Weg näherte sich Gerd der dunklen, verschworenen Gemeinschaft. Von weitem zerflossen die Schwarztöne und formten eine undurchdringliche Einheit. Der Weg war vom Schnee nur notdürftig geräumt. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen.
Gerd trug seine braunen Hosen, die mit den Bügelfalten. Jeans? Kommt nicht in Frage, hatte seine Mutter am Morgen bestimmt. Die Parka hatte er sich nicht ausreden lassen.
Er stellte sich abseits. Am Eingang der Leichenhalle traten die Totengräber in ihren langen, schwarzen Umhängen von einem Fuß auf den anderen. Einer der Totengräber zog die Mütze ab und fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. Sicherlich hatten die vier Männer geflucht. Ausgerechnet jetzt, wo alles steinhart und der viele Schnee. Bestimmt hatten sie den Boden mit Spitzhacken aufbrechen müssen, mühsamste Schufterei, Schaufel für Schaufel. Der einfache Holzsarg ohne ein Kreuz stand verloren in der Leichenhalle, davor ein einziger Kranz. Gerd konnte die Schrift auf der Schleife nicht entziffern.
Die Trauergemeinde. Alte Frauen, die ihre flinken Augen hinter dicken, tief in die Stirn gezogenen Kopftüchern verbargen, Greise, die sich an Gehstöcken festklammerten, Männer, die betont lässig ihre Taschenuhren aus der Westentasche zogen, während ihre Frauen unverhohlen die Aufmachung der Wartenden begutachteten, Mädchen, die einander mit dem Ellbogen stießen, Jungen, die sich versteckt knufften und kniffen, ein gezischtes „Ruhe", vorgehaltene Hände, Köpfe, die sich nahe kamen, Flüstern, Nicken, Getuschel, zum Grinsen verzogene Münder, im Einklang zuckende Unterkiefer, Speichel, der am Kiefer festfror.
Wenige Meter von Gerd entfernt stand der alte Hausmann. Der hatte den Toten gefunden. Der Alte machte ein zufriedenes Gesicht und wippte leicht in den Knien. Hielt er nicht eine Zigarre in der Hand versteckt? Der Platz am Harmonium war leer. Gerds Finger begannen klamm zu werden. Überhaupt machte sich die Kälte breit, kroch durch die Parka, den Pullover, saugte sich auf der Haut fest, war nicht mehr abzuschütteln. Der Pfarrer ließ sich noch immer nicht blicken. Sonst war er doch die Pünktlichkeit in Person. Gerd schaute sich um. Niemand schien dem Toten nachzuweinen. Ziemlich weit vorne entdeckte Gerd seine Mutter. Endlich öffnete sich die Tür. Nur ein Messdiener mit einem Holzkreuz erschien, gefolgt vom Pfarrer. Sie kamen den Kiesweg herauf. Das Murmeln wurde leiser, das Gekichere erstarb. Erwartungsvoll teilte sich die Menge. Der Pfarrer betrat die Leichenhalle, die sonst von Angehörigen überquoll.
„Rufe unseren verstorbenen Bruder heim in Dein Reich. Wir bitten Dich, erhöre uns.“
„Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm.“
Die Totengräber packten den Sarg entschlossen und setzten ihn unsanft auf den kleinen, schwarz drapierten Friedhofswagen. Die Menge formierte sich. Am Grab hatten die Träger Probleme mit dem vereisten Untergrund, rutschten fast aus, kamen mit der Abseiltechnik nicht so zurecht. Ruckweise ließen sie den Sarg sinken. Die Zuschauenden schoben sich näher zum Grab, verfolgten gespannt jede Einzelheit der Vorführung. Der Pfarrer warf drei Schaufeln Erde auf den Sarg. Danach stimmte er „Wir sind nur Gast auf Erden" an. Einzelne Stimmen fielen ein.
„... gar manche Wege führen aus dieser Welt hinaus ...“
Gerd brachte keinen Ton heraus.


 

Freitag

 

1


Im Schlafzimmer der Eltern schepperte der Wecker. Vaters Schnarchen kam für einen kurzen Moment aus dem Rhythmus. Mutter hatte den Wecker zum Verstummen gebracht, blitzschnell. Im Flur ging das Licht an. Gerd hörte die leisen Schritte seiner Mutter auf der Treppe. In der Hand wird sie den vollen Plastiknachttopf halten. Die Toilette war im Erdgeschoss. Dort wohnten die Großeltern. Gerd scheute nachts den langen Weg vom zweiten Stock nicht aus Bequemlichkeit wie sein Vater. Gerd fürchtete sich. Diese Dunkelheit! Diese gespenstische Ruhe! Aber auf den Nachttopf, unter keinen Umständen! Lieber stundenlanges Wälzen von einer Seite auf die andere. Er schüttelte sich, wenn er an den Nachttopf mit der dunkelgelben Flüssigkeit dachte. Gerds Bruder atmete ruhig. Der hatte es gut, konnte länger schlafen, musste nicht wie Gerd kurz nach sieben mit dem Bus in die Stadt fahren. Michael war erst elf und ging noch in die Volksschule im Dorf. Jetzt muss Mutter ganz unten sein, wird als erstes den Nachttopf ins Klo kippen. Gleich wird Gerd die Wasserspülung hören. Dann wird Mutter in die Küche im ersten Stock gehen.

Brigitte hatte Gerd gestern nicht getroffen. Sie war nicht im Bus gewesen, weder am Morgen, da war es nicht ungewöhnlich, wurde sie doch von ihrer Mutter manchmal direkt ins Mädchengymnasium gebracht, noch um viertel vor zwei nach Schulschluss, und das war schon ungewöhnlicher. Gerd hatte vorm Mädchengymnasium gestanden, Brigitte war nicht gekommen. Und auch auf dem Bahnhofsvorplatz, wo die auswärtigen Schüler auf den Bus warteten, hatte er Brigitte nicht entdecken können. Vielleicht hatte sie früher Schule aus gehabt, vielleicht war sie krank. Gerd war am Nachmittag mit dem Rad an die Kirche gefahren, neben der Kirche stand die Telefonzelle. Er war um die Zelle gestrichen, einmal auch hineingegangen, in der Hand die beiden Geldstücke, hatte den Hörer abgenommen, wieder eingehängt, hatte sich nicht getraut, Brigittes Eltern anzurufen. Die Telefonnummer kannte er auswendig. Ob Brigitte heute Morgen im Bus sein würde?

Jetzt wird Mutter in der Küche sein, endlich Zeit finden, ihren hellblauen Bademantel aus Perlon zuzubinden, Gerd fand ihn hässlich, aber pflegeleicht, betonte Mutter. Sie wird die Klappe vom Herd öffnen, von den Zeitungen nehmen, fein säuberlich gestapelt in dem Pappkarton neben dem Herd, die Seiten zerknüllen, unten in den Ofen legen, eine Handvoll der fingerdünnen Holzstückchen darüber, die Opa mit dem Zollstock, wie Vater immer frotzelte, klein hackte, jetzt die Eierkohlen und zwei, drei Briketts obenauf. Sie wird ein Streichholz anreißen. Gerd glaubte das Knistern des Papiers, das Knacken des Holzes zu hören. Seine Tür war nur angelehnt, aber das ... Gleich wird Mutter die Treppe hochhuschen, Vater an der Schulter fassen, sanft schütteln.
„Aufstehen, höchste Zeit!“
Er wird vor sich hinbrummen, sie die Decke zurückschlagen. Die Bettfedern werden knarren. Er wird die Treppe hinunterwanken, viel lauter als Mutter, fast ein Poltern. Natürlich hat sie schon längst das Kaffeewasser aufgesetzt. Wenn er vom Klo kommt, wird der Kaffee auf dem Tisch dampfen.

Der Schulweg mit Brigitte, händchenhaltend. Krampfhafte Suche nach einem Gesprächsthema.
„Gestern haben wir unentschieden gespielt.“
Aber für Fußball interessiert sie sich nicht. Quälende Pausen. Worüber soll er mit ihr reden? Die Bee Gees und ihr „New York Mining Disaster" kennt sie nicht, nur den neuesten Hit „World", und der gefällt Gerd nicht sonderlich. Die Beatles mag sie nicht, von den Stones fängt Gerd erst gar nicht an. Brigitte steht auf Udo Jürgens. Nicht zum Aushalten, schnitt Gerd auf, gab nicht zu, dass er diesen Jürgens insgeheim ganz gern hörte, vor allem natürlich das mit den 17 Jahren und den blonden Haaren, schließlich war Brigitte 17 und hatte blondes Haar. Gerd hatte sich die Single mit dem Titel gekauft und hörte sie jeden Nachmittag auf dem Schallplattenspieler, den er als Werbegeschenk vom Buchclub erhalten hatte, nachdem er seine Urgroßmutter geworben hatte. Klar, bei Rainer, Werner und Peter war mit diesem Jürgens kein Staat zu machen. In der Clique würden sie ihn auslachen, ihn aufziehen. Kamen sie mal darauf zu sprechen, war es Gerd, der diesen Schnulzenheini und alle anderen Schmalzbubis verteufelte.

Wenn Brigitte heute Morgen im Bus ist, wird er sie fragen, wo sie gestern war. Hundert Meter vom Schulweg gerettet, vielleicht noch einige mehr. Vielleicht waren ein Onkel, eine Tante von ihr gestorben, ganz überraschend, dann könnte Brigitte erzählen, Gerd würde Fragen stellen, sie würde von der letzten Verlobung oder Silbernen Hochzeit oder Taufe erzählen, wo sie diesen Onkel, Gerd entschied sich für Onkel, getroffen hatte. Ein plötzlich verstorbener Onkel, der ganze Schulweg wäre gerettet, wenigstens für diesen Freitagmorgen. Ab und zu müsste die Hand gewechselt werden, wenn die Schultasche zu schwer wurde. Diesen Wechsel vollzogen sie schweigend, ein kurzer Blick genügte, ein eingespieltes Team, obwohl sie sich erst vor gut einer Woche kennengelernt hatten.

Unten im Hof knatterte der alte VW. Der Auspuff müsste repariert werden, dringend. Vater ließ den Motor noch einmal aufheulen.
„Das braucht der, sonst wird der nicht warm, vor allem bei der Kälte.“
Zwanzig nach sechs, genau zwanzig nach. Vater hat ein Stück Brot angebissen, mit zwei Tassen Kaffee hinuntergespült, seine gepackte Tasche geschnappt, Thermoskanne und belegte Brote hatte Gerds Mutter ihm gerichtet. Um Viertel nach sechs hatte Vater den Wagen im Hof aufgeschlossen, keine Garage, noch keine, aber nächstes Frühjahr sollte es soweit sein, der Mandelbaum würde dran glauben müssen, erster Startversuch, Stottern, Blubbern, wie immer, aber beim zweiten Mal, sechs Uhr zwanzig, Aufheulen des Motors, trotz der vielen Proteste von Großvater. Mutter wird an der Tür stehen, winken, immer noch im hellblauen Bademantel, das Tor schließen, das eiskalte Metalltor. Aber wenn Vater noch mal aussteigen muss, verliert er zuviel Zeit, das ist ihm nicht zuzumuten, wo er es doch nicht einfach hat in der Fabrik, vor allem seit er Betriebsrat ist, die vielen Sitzungen, die vielen Probleme.

In der Küche brannte das Feuer, fing an, sich gegen die Dezemberkälte durchzusetzen. Eine wohlige Wärme ließ sich bereits ahnen.
„Aufstehen, Gerd, schon fast halb sieben!“
Bis sich die Wärme einigermaßen ausgebreitet hatte, musste Gerd längst aus dem Haus sein, war auf dem Weg zum Bus, stand an der Haltestelle, trat von einem Fuß auf den anderen, zeigte dem Fahrer die Monatskarte, fand wie immer keinen Sitzplatz, hoffnungslos überfüllt der Bus, jeden Morgen. Ob Brigitte zusteigen würde?
„Jetzt steh doch endlich auf!“
„Komm ja schon!“
Jetzt steht Mutter hinter dem Stuhl in der Küche, über der Lehne ihre Kleider. Umständlich knotet sie die Schleife ihres Morgenmantels auf.
Letzten Sonntagabend hatte Brigitte ihn geküsst, zum ersten Mal, flüchtig, im Bus, kurz vor der Haltestelle, an der sie aussteigen musste. Sie waren den Nachmittag ziellos durch die Stadt geschlendert, Hand in Hand, wortlos, hatten im Café am Bahnhof eine Tasse Tee getrunken. Gerd hatte gefragt, ob er zahlen solle, gehofft, Brigitte würde den Kopf schütteln. Um fünf öffnete die Diskothek überm Brauhauskeller, sie hatten reingeschaut, eine Cola getrunken, wieder hatte Gerd bezahlt, sie hatten getanzt, irgendwas Langsames, so eine deutsche Schnulze, unausstehlich, aber zum Tanzen Klasse. Brigitte hatte keine Lust mehr gehabt, also wieder durch die Stadt, kreuz und quer, händchenhaltend, schweigend. Der letzte Bus zurück ins Dorf fuhr sonntags um zwanzig Uhr zehn. Brigitte wollte unbedingt eine Stunde früher los, Gerd war enttäuscht gewesen, hatte aber eingewilligt. Er hatte die Lippen zusammengepresst, der Fahrer hatte viel zu scharf gebremst. Gerd, die Augen geschlossen, traf erst ins Leere, spürte dann Brigittes Lippen, war erschrocken, als ihre weiche, feste Zunge sich zwischen seine Lippen schieben wollte, hatte seinen Mund noch fester zusammengekniffen. Brigitte hatte gelacht, sich am Ausstieg schnell noch einmal umgedreht, ihm zugewunken, war in der Dunkelheit verschwunden.

Gerd schlug die Bettdecke zurück, schwang sich hoch, hielt in der Bewegung inne, passte auf, dass er mit dem rechten Fuß zuerst auftrat. Das kalte Linoleum. Er suchte seine Hausschuhe, fand sie nicht. Er nahm den Bettvorleger, klappte ihn auf und strich ihn gerade. Jeden Abend schlug er ihn zurück. Im Sommer, nach dem Parkfest, als er zu viel getrunken hatte, nicht unbedingt zu viel, aber Bier vertrug er nicht, aus Steinkrügen sowieso nicht, da war es ihm schlecht geworden, er hatte nicht einschlafen können, alles hatte sich gedreht, er hatte sich erbrochen, mitten auf den Bettvorleger. Mutters Geschimpfe, der Fleck auf dem Vorleger. Trotz des Schrubbens hatte er anfangs fürchterlich gestunken, so sehr, dass Gerd abends immer den Vorleger umgeschlagen hatte. Mit der Zeit hatte der Gestank nachgelassen, war inzwischen fast vollkommen verschwunden, nur noch der Fleck war sichtbar. Das Umschlagen des Vorlegers hatte Gerd beibehalten. Es war ihm zur Gewohnheit geworden. Auch wenn er keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte.

In der Küche war es schon wärmer als erwartet. Mutter stand noch hinter dem Stuhl, machte sich an ihrem Büstenhalter zu schaffen. Gerd stellte sich hinter den Stuhl ihr gegenüber. Mutter hielt schützend ihren rechten Arm vor die Brust, mit der linken fingerte sie am Verschluss herum. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass die Brust heraus quoll. In der Küche brannte nur die Lampe über der Spüle und verbreitete ein diffuses Licht. Die Neonröhre über dem Küchentisch wurde erst eingeschaltet, wenn Mutter mit dem Anziehen fertig war. Heute Morgen kam Mutter mit der einen Hand allein nicht zurecht. Sie versuchte es mit beiden Händen. Gerd sah eine Brustwarze, groß und dunkelbraun. Er schaute schnell weg. Endlich ging das große Licht an. Gerd schmierte sich ein Marmeladenbrot, Erdbeermarmelade, der Kaffee war noch heiß. Er stand auf dem Herd, am Rand der Platte.

„Was willst du auf die Schulbrote?“
„Leberwurst“, antwortete Gerd, ohne groß nachzudenken. Seine Mutter sah in vorwurfsvoll an. Gerd verstand sofort. Es war Freitag, also keine Leberwurst, überhaupt keine Wurst. Käse oder diese ekligen Schokoladenplatten, extra fürs Schulbrot, wertvoll für die Leistungsbereitschaft Ihres Kindes, wie es in der Werbung hieß. Gerds Mutter zeigte auf den Käse, jede einzelne Scheibe verpackt, vakuumversiegelt, Frischegarantie, auch in der angebrochenen Packung.

Der Riesenkrach am Karfreitag. Gerd schlendert nachmittags durchs Dorf, trifft keinen aus seiner Clique, schaut in die Vereinskneipe, setzt sich zu Klaus, dem rechten Verteidiger aus der A-Jugend, bestellt ein kleines Bier, quatscht über das Spiel vom letzten Sonntag. Am Nebentisch spielen sie siebzehn und vier. Fünfmarkscheine, Zehnmarkscheine liegen auf dem Tisch, werden hin und hergezogen, wechseln in Windeseile den Besitzer. Lachen, Kopfschütteln, noch eine Runde. Die unglückliche Eins-zu-Null-Niederlage im letzten Spiel. Klaus hat gegen den Linksaußen geklärt, hat den Ball sicher unter Kontrolle, will zu Gerd, dem Torwart, zurückspielen, der Pass viel zu kurz. Der Linksaußen spurtet dazwischen, umkurvt Gerd, der den Stürmer nur noch an der Ferse erwischt. Elfmeter für die gegnerische Mannschaft, Tor, fünf Minuten vor dem Abpfiff. Das Spiel verloren. Gerd bestellt noch ein Bier, wieder ein kleines, bekommt Hunger, also ein Leberwurstbrot mit Gurke und viel Senf. Mit Heißhunger schlingt Gerd das Brot mit der dick aufgetragenen Leberwurst hinunter. Kurz vor sechs ist er wieder zu Hause, hat keinen Appetit mehr fürs Abendessen. Natürlich muss er sich an den Tisch setzen. Der spannende Roman auf seinem Nachttisch.

„Na, was hast du denn heute Nachmittag so gemacht?“
Die Frage seiner Mutter kommt Gerd alles andere als verfänglich vor. Er erzählt, vom Spaziergang durchs Dorf, von der Vereinskneipe, vom unglücklichen Tor letzten Sonntag, vom Leberwurstbrot, ohne Hintergedanken, ahnungslos, ohne Schuldgefühle. Der Ausbruch seiner Mutter, ihr Aufschreien. Die Gabel fällt ihr aus der Hand, ihr fassungsloser Blick.
„Leberwurstbrot, am geheiligten Karfreitag, am höchsten Feiertag, am Fastentag, eine Todsünde, die schlimmste Todsünde überhaupt. Wenn das die Nachbarn erfahren.“
„Aber von unseren Nachbarn geht doch keiner in die Vereinskneipe“, hatte Gerd ruhig geantwortet, „höchstens der Wolfermann, und der ist doch sowieso immer zu, der kriegt nichts mit.“
Jetzt explodiert Gerds Mutter. Ihr Gesicht läuft rot an, sie schnappt nach Luft, ihre Stimme überschlägt sich.
„Was, jetzt willst du auch noch frech werden, dich über mich lustig machen. Da kommst du nicht ungeschoren davon. Und erzähl ja Oma nichts!“
Vater sitzt da und sagt nichts. Cornelia, Gerds kleine Schwester, zieht den Kopf ein. Michael kann sein Grinsen kaum verbergen. Leberwurst am Karfreitag. Nie würde Gerd das Drama vergessen. 

Also heute Käse auf die Schulbrote, keine Leberwurst. Gerd schaute auf die Uhr, sechs vor sieben. In wenigen Minuten musste er los. Er trank seinen Kaffee aus und ging ins Bad eine Treppe tiefer. Seine Zähne hatte er schnell geputzt, dreimal, höchstens viermal hin und her, ausspülen, fertig. Noch die Augen mit zwei Fingern nassmachen, abtrocknen und raus aus dem Bad. Oben an der Garderobe stand Cornelia und schluchzte. Gerd nahm sie auf den Arm und drückte sie, obwohl er keine Minute verlieren durfte. Cornelias Schluchzen wurde lauter.
„Was ist denn los?“
„Ich will nicht in den Kindergarten“, brachte sie heraus.
„Warum denn nicht?“
„Weil ich nicht will, nie mehr!“
„Erzähl!“
Die Küchentür ging auf.
„Was ist denn hier los? Warum bist du noch nicht weg? Du kommst noch zu spät! Vergiss dein Schulbrot nicht!“
Gerd setzte Cornelia sanft auf den Boden, rannte in die Küche, griff sich das Brot.
„Heute Mittag erzählst du mir alles“, sagte er hastig, registrierte noch, dass seine Schwester aufgehört hatte zu weinen.
„Tschüss.“
Gerd schnappte sich seine Tasche. Noch ein Küsschen für Cornelia.
„Aber nicht vergessen“, rief ihm Cornelia nach.
Die Haustür schlug hinter ihm zu.