Leseprobe aus: Eiswut" (2011)

 

eins

 

Vorspiel am Wasserturm

 

 

Es ist kalt. Du bist Kälte gewöhnt. Und noch ist sie zu ertragen. Es muss nach Mitternacht sein. Der Nacht bleibt viel Zeit in dieser Nacht. Endlos lange Stunden, bis der neue Tag anbricht. Der neue Tag? Was soll da neu sein? Es wird sich nichts ändern. Du musst sehen, wie du überlebst. Jeden Tag. Gestern. Heute. Morgen. Wie lange noch? Du weißt es nicht. Warum solltest du einen einzigen Gedanken daran verschwenden? Früher, in deinem anderen Leben, da hast du über die Zukunft nachgedacht. Hast Pläne geschmiedet. Hast dich gefreut auf den nächsten Urlaub. Auf ein neues Auto, noch schneller, noch exklusiver. Auf einen Fernseher mit Full HD und 100 Hertz, auf eine stylishe HiFi-Anlage. Hast Angst gehabt vor Krankheit, vor Entlassung. Dass deine Aktien ins Bodenlose stürzen könnten. Lange her! Das zählt nicht mehr. Heute grübelst du darüber nach, wie du die Nacht überstehen, wo du dich am nächsten Tag aufwärmen kannst, wo du eine warme Mahlzeit herbekommst, eine heiße Tasse Tee.

 

An der Ampel vorm Rosengarten hält ein Kastenwagen, weiß, neu. Ist nicht viel los diese Nacht. Vor einigen Tagen muss um den Wasserturm der Teufel los gewesen sein. Silvester, das neue Jahr. Was war neu? Es ändert sich nichts. Du wünschst dir, nicht in deinem eigenen engen, starren Körper zu stecken. Du bist aus der Stadt geflohen. Die Depots im Käfertaler Wald. Relikte der US-Truppen. Schwere Metalltore. Künstlich angelegte Hügel, mit Gras und Gebüsch bewachsen. Früher Giftgaslager. Wird gemunkelt. Die Amis weg, die Hügel geblieben. Die meisten Tore verschlossen. Aber zwei, drei der Depots sind zugänglich. Irgendjemand hat es geschafft, die Tore zu knacken. Im Sommer waren die ausgemusterten Depots wegen der Kühle begehrt. Im Winter verirrte sich kaum jemand in den Käfertaler Wald, einfach weil es in den Depots noch kälter war als im Freien. Dir war es egal gewesen. Wenigstens ein Dach über dem Kopf. Aber viel wichtiger ist die Ruhe. Die Einsamkeit. Die Stille. Keine ausgelassen feiernden Menschenmassen. Keine Betrunkenen. Keine wildfremden Leute, die sich umarmen, die das neue Jahr begrüßen. Neu? Was soll am neuen Jahr neu sein? Im Wald ist es kalt und dunkel und still in der Neujahrsnacht. Die künstliche Höhle kommt dir vor wie ein Grab. Es ist kalt. Du zitterst, du frierst. Zum Glück kannst du mit der Kälte umgehen. Aber du hast das Gefühl, dass es kälter ist in dieser Nacht. Mitten in der Nacht hast du dein Grab verlassen, bist stundenlang durch den Wald gestolpert. Hast dir den Jahresbeginn anders vorgestellt. Jetzt sitzt du auf einer Bank hinter dem Wasserturm, frierst, weißt nicht, ob es von der Kälte kommt oder von der Erinnerung an die Neujahrsnacht.

 

 

Du blickst auf das Wasserbecken, das im Winter leer ist. Schaust auf den Rosengarten, siehst, wie der weiße Kastenwagen zum Wasserturm abbiegt. Fährt der ohne Licht? Normal ist das nicht, findest du. Früher, als kleiner Junge, hast du gefroren, wenn du abends ins Bett gegangen bist. Das ungeheizte Zimmer, das du dir mit deinem Bruder teiltest. Die Eisblumen an den Fensterscheiben. Du rollst dich ganz klein zusammen und ziehst die Mütze über das Gesicht. Die Mütze! Ein abgeschnittener Nylonstrumpf von Mutter, mit einem Knoten versehen. Die Nylonstrümpfe, ein Geschenk der Verwandten aus den USA. Genauso wie der Donald-Duck-Teller, den man mit heißem Wasser füllen kann und den du liebst, obwohl du nicht weißt, wen die komische Ente darstellen soll.

„Du siehst aus wie ein Bankräuber“, sagt dein Bruder.

„Woher willst du denn wissen, wie so ein Bankräuber aussieht?“

„Maskiert eben.“

 

 

Der Kastenwagen kommt näher. Der fährt tatsächlich ohne Licht. Seltsam. Du ziehst die Decke noch fester um dich. Du duckst dich, machst dich klein. Der Wagen hält an der Treppe, die zu dem Laubengang hinunterführt. Dort sitzt du auf deiner Bank. Ein kurzes Rangiermanöver und du siehst die Hecktüren des Autos. Siehst das Nummernschild, kannst trotz der Dunkelheit das Schild erkennen. Deine Augen sind noch gut. MA-MA. Dann eine Eins und eine Null. Die letzte Zahl kannst du nicht entziffern. MA-MA. Das Nummernschild kennst du. Das Auto kennst du. De Rollstuhl. Der kleine Junge ohne Haare. Die Wollmütze. Was hat dieses Auto mitten in der Nacht hinter dem Wasserturm verloren? Das Öffnen und Zuschlagen der Fahrertür. Ein Mann in einer schwarzen Daunenjacke und mit einer Wollmütze, ebenfalls schwarz. Der Mann, zwischen 30 und 40 Jahren, schätzt du, macht sich an den Hecktüren zu schaffen. Jetzt klappt er ein Blech aus, verschwindet im Wagen. Ein Poltern. Ein Rollstuhl, der über die Rampe auf den Gehweg geschoben wird. Du glaubst deinen Augen nicht zu trauen. Ein älterer Mann im Rollstuhl. Unnatürliche Sitzhaltung, angewinkelte, nach oben gedrückte Beine, runder Rücken, der Kopf nach hinten gedrückt, keine Mütze, keine Jacke, keine Handschuhe, keine Hosen, keine Strümpfe, keine Schuhe. Der Mann im Rollstuhl ist nackt. Und er bewegt sich nicht. Ob er schläft, fragst du dich. Aber wie kann ein Mensch schlafen bei dieser Kälte? Abgesehen davon, dass er für die Kälte, um es einmal freundlich auszudrücken, keineswegs passend angezogen ist. Der Mann im Rollstuhl muss tot sein, sagst du dir. Der jüngere Mann bugsiert den Rollstuhl nach hinten gekippt und auf zwei Rädern balancierend die Stufen hinab. Wie sollst du dich verhalten? Wenn der Mann weitergeht, kommt er direkt auf dich zu. Er muss dich entdecken.

 

 

Du hältst die Luft an. Jetzt verschwinden, sich in Luft auflösen. Sofort! Auf der Stelle! Du versuchst dich noch kleiner zu machen, willst dich zusammenrollen, wie damals in deinem kalten Bett, willst dich am liebsten in dich selbst verkriechen. Aber der Mann da oben ist mit sich und dem Rollstuhl beschäftigt. Für dich hat er keinen Blick. Er stellt den Rollstuhl an der zweiten Wasserstufe ab, klemmt die Bremsen fest, geht um das Gefährt herum, greift dem Mann im Rollstuhl unter die Arme. Du siehst, dass die Arme auf dem Rücken zusammengebunden sind. Der Mann im Rollstuhl ist nicht besonders groß, trotzdem muss er schwer sein. Der junge Mann schwankt, braucht einige Zeit, bis er seinen Schwerpunkt gefunden hat, bis er schwerfällig losgehen kann. Er tritt über die Brüstung des Wasserbeckens, bleibt in der Mitte stehen, blickt sich nach allen Seiten um. Er zögert. Glück gehabt, dass er dich nicht auf deiner Bank entdeckt hat.

 

 

Der Mann aus dem Rollstuhl. Etwas ist komisch. Klar, er ist nackt. Aber etwas anderes lässt dich stutzen. Er ist steif, das ist es, natürlich! Wie gefroren. In sitzender Haltung. Die abgewinkelten Beine, während er im Rollstuhl gesessen hat. Da ist es dir noch natürlich vorgekommen, irgendwie. Aber jetzt! Die Beine sind immer noch abgewinkelt, während er durch die Gegend getragen wird. Und dann sitzt der Mann aus dem Rollstuhl auf einer Stufe des Wasserbeckens und schaut in die Augustaanlage. Könntest du fast denken, wäre der Kopf nicht nach hinten abgeknickt, wäre der Blick nicht in den Himmel gerichtet. Der muss erbärmlich frieren, denkst du auf deiner Bank. Im selben Moment weißt du, dass dem Rollstuhlmann die Kälte nichts mehr anhaben kann, dass er nie mehr frieren muss. Der andere Mann hat den Rollstuhl zusammengeklappt im Kastenwagen verstaut, die Rampe eingezogen und die Hecktüren zugeschlagen. Dann das Klacken der Fahrertür, das Surren des Motors. Und schon ist er verschwunden, der Kastenwagen fährt ohne Licht um den Wasserturm, MA-MA, schaltet die Beleuchtung erst ein, als er vorne am Rosengarten links abbiegt.

 

 

Der Rollstuhlmann wird nicht mehr frieren. Du stopfst deine Decke in eine deiner Plastiktüten, suchst deine übrigen Habseligkeiten zusammen. Du stampfst mehrmals mit den Füßen auf, um Wärme in die Zehen zu bekommen. Wenn es so mit der Kälte weitergeht, musst du ernsthaft über Alternativen nachdenken. Das Übernachtungsheim auf der Friesenheimer Insel. Einige Betten sind immer frei, selbst bei sibirischer Kälte. Innerlich schüttelt es dich. Die Regeln, die dort gelten. Die Spannungen mit den anderen Bewohnern. Auf engstem Raum zusammen. Die Angst, bestohlen zu werden. Du hast das alles erlebt. Nein, danke! Du musst weg von hier, schnell! Aber du bist neugierig, stellst die Plastiktüten auf die Bank und schaust dich nach allen Richtungen um. Genau wie der Mann vorhin, der den Rollstuhlmann im Arm hatte. Die Luft scheint rein zu sein. Du huschst die Stufen hoch, betrittst das Wasserbecken. In mehreren Stufen fließt in den wärmeren Jahreszeiten das Wasser in ein rechteckiges Becken, das sich zu einem noch größeren Rundbecken öffnet, in dem eine imposante Fontäne das Wasser hoch schleudert. Du stehst vor dem Rollstuhlmann. Kein Zweifel. Er ist tot. Auch seine Beine sind gefesselt. Mit braunem Paketklebeband. Der Tote in den Lauerschen Gärten fällt dir ein, einige Jahre schon her. Du hast ihn um eine Zigarette angehauen, hast mit ihm sogar geredet. Erst als du ihn angestoßen hast und er auf seiner Bank umgekippt ist, hast du gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Aber damals bist du betrunken gewesen. Heute hast du einen klaren Kopf. Erinnerst dich an den Ärger mit der Polizei, damals bei dem Toten in den Lauerschen Gärten. Du bist einer Streife direkt in die Arme gelaufen.

 

 

Du streckst den Zeigefinger aus und berührst die Wange des Rollstuhlmannes. Steinhart! Die Wange ist gefroren. Du gehst um den Toten herum, siehst die blutige Wunde auf dem Hinterkopf, der eingeschlagene Schädel, die Eiskristalle an den Wundrändern. Was für eine Wut muss jemand haben, der einen Menschen tötet und ihn dann in so einer Art und Weise in aller Öffentlichkeit ausstellt? Eine Antwort weißt du nicht. Du gehst zurück zu deiner Bank, nimmst deine Plastiktüten und machst dich auf den Weg.

 

(Copyright: Wellhöfer Verlag Mannheim)

 

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