Fichnters Erbe

Der Kurpfalzkrimi, hrsg. von Klaus Haag, Barbara Mattes und Klaus Spindler, erschienen im Oktober 2001

im C & C Verlag, Schifferstadt

 

 

Aus dem Vorwort von Klaus Haag:

 

"23 Autorinnen und Autoren haben über Jahre hinweg einen abwechslungsreichen und spannenden Kriminalroman geschrieben, nacheinander, stets aufbauend auf die vorausgängige Folge. Der Krimi erstreckt sich über 24 Kapitel und spielt in der Kurpfalz... Die formidable Idee, diesen bemerkenswerten Staffelkrimi zu verfassen kam vom Mannheimer Autor Walter Landin ... im Jahr 1994. Die erste und die letzte Folge stammen aus der Feder des Ideengebers."

 

 VERGRIFFEN!

 

 

 

 

Leseprobe: KURPFALZ-KRIMI,TEIL 1

 

 Walter Landin

 Fichtners Erbe

 

Fichtner zog am Rolladengurt. Der Rolladen klemmte. Mit einem Ruck konnte er erreichen, daß sich die Lamellen ein klein wenig auseinanderschoben. Durch die Ritzen fiel spärliches Licht. Fichtner fühlte sich elend. Gestern nacht war es spät geworden. Und die Hausmarke rot bei den Geflügelzüchtern forderte ihren Tribut. Mitten im Zimmer lag die schmuddelige Matratze, die Fichtner auf dem Speicher entdeckt hatte. Die Decke hatte er in der Küchenbank gefunden. In Tante Nellys Bett, noch mit dem Bettzeug bezogen, in dem sie zuletzt geschlafen hatte, wollte er sich nicht legen.

Tante Nelly. Zweimal hatte Fichtner sie in seinem Leben gesehen. Das erste Mal war er gerade drei gewesen, und Tante Nelly hatte ihm einen Teddy geschenkt, einen echten Steif mit Knopf im Ohr. Seine Mutter hatte es ihm erzählt. Er selbst konnte sich nicht daran erinnern. Mit sieben war es zur zweiten Begegnung gekommen. Tante Nelly, eine zierliche, grauhaarige Frau mit großen, warmen Augen. Vor fünf Wochen war sie gestorben, weit über siebzig. Zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung, Altersschwäche. Zu ihrer Beerdigung hatte Fichtner nicht kommen können. Er war zu dieser Zeit irgendwo in Südamerika unterwegs gewesen. Einmal im Jahr ging Fichtner auf große Tour und freute sich jedes Mal wieder auf sein kleines Dorf, in dem er geboren war und immer noch lebte. Bei seiner Rückkehr hatte Fichtner den Brief vom Notar vorgefunden. Zu seiner großen Überraschung hatte Tante Nelly ihm ihr Haus vererbt.

Was sollte er mit einem Haus in einer Großstadt, in der die Luft verpestet, die Lebenserwartung niedriger als anderswo war und die Menschen eng an eng wohnten? Als überzeugter Dorfmensch hatte Fichtner nicht vor, sich dem Großstadtstreß auszusetzen. Also war er bloß angereist, um den Verkauf des Häuschens schnell in die Wege zu leiten, sicherlich auch mit dem Hintergedanken, möglichst eine Stange Geld an seinem unerwarteten Erbe zu verdienen. Zuerst war Fichtner allerdings überrascht. Tante Nellys Häuschen lag inmitten von Feldern an einer kleinen Straße. Von ihrem Wohnzimmer aus hatte man einen wunderschönen Blick auf die Silhouette des um die Jahrhundertwende eingemeindeten Vorortes. Dörfliche Idylle am Rand der Großstadt. Der einzige Lärm, wenn man es überhaupt Lärm nennen konnte, kam von der benachbarten Anlage des Geflügelzuchtvereins. Fichtner war begeistert, auch etwas verunsichert, wollte aber am schnellen Verkauf festhalten. Er kam am späten Nachmittag an und hatte bereits für den kommenden Vormittag einen Termin bei einem Immobilienmakler vereinbart. Fichtner zerrte nochmals am Rolladenband. Zum Glück war der Rolladenkasten leicht zu erreichen.

Als Fichtner gestern das Gartentor zu Tante Nellys Haus aufschlossen hatte, hatte ein älterer Mann mit Fahrrad angehalten. Blaue Arbeitshose, nicht mehr ganz sauber, abgetragene Steppjacke, fein säuberlich polierte, schwarze Arbeitsschuhe.

„Tut sich endlich was bei der alten Nelly? Sie wollen wohl einziehen?“

Fichtner verneinte. Er sei der Erbe, wolle Grundstück und Haus verkaufen. Das Gesicht des alten Mannes verfinsterte sich.

„So einer. Spekulieren. Da kommt Ihnen gerade recht, was die vorhaben.“

Fichtner schaute ihn fragend an. Der Mann deutete auf ein Plakat hinter sich.

„Sind doch alles Gauner, aber ich bin schlauer, als ihr alle denkt.“

Damit schwang er sein Bein über die Fahrradstange und trat in die Pedale. Wieder blieb Fichtners Blick an den blankpolierten Arbeitsschuhen hängen.

„Neubaugebiet Nord? Informationsveranstaltung mit Vertretern der Stadtverwaltung.“

„Finger weg von den Goggelrobbern!“ war mit dickem Filzstift quer über das Plakat gekritzelt.“

Das wenige Licht, das durch die Rolladenritzen fiel, konnte auch von der Straßenlampe kommen, die auf der gegenüberliegenden Seite stand. Dann mußte es noch in aller Herrgottsfrühe sein, und es war mehr als merkwürdig, daß Fichtner nach der letzten Nacht so früh aufgewacht war. Irgendeine undefinierbare, nicht näher zu beschreibende Unruhe hatte von ihm Besitz ergriffen. Fichtner zerrte ein letztes Mal am Gurt, mehr aus Wut als in der Hoffnung, etwas zu erreichen. Er war im Augenblick unfähig, das Problem überlegt und ruhig anzugehen.

 

 

Der letzte Abend. Um acht die Versammlung im großen Saal bei den Geflügelzüchtern. Der Raum brechend voll, verraucht, Stimmengewirr, eine knisternde, aufgeladene Atmosphäre. Fichtner setzte sich auf einen der wenigen freien Plätze, weit hinten in der Nähe der Tür.

„Da an der Theke gibt`s was zu trinken. Decken Sie sich lieber mal ein, junger Mann. Sie werden eine trockene Kehle bekommen. Und heute wird`s hoch hergehen.“

Fichtners Nachbar hatte ein Glas Rotwein vor sich stehen. Er ging auf die sechzig zu, war klein und schlank und tat von Anfang an sehr vertraut.

„Hausmarke rot, für mich bitte auch noch eine.“

Als Fichtner sich und den Nachbarn mit dem gewünschten Getränk versorgt hatte, erklang an einem Tisch, der ganz vorne auf einem Podest stand, eine Glocke. Eine Frau erhob sich und trat ans Mikrophon.

„Stadträtin Singer, gehört zu den Grünen, trotzdem ganz passabel.“

Fichtners Nachbar sollte ihn im Verlauf des Abends noch öfter mit prägnanten Einschätzungen versorgen. Mit der Hausmarke hatte er zumindest goldrichtig gelegen. Nach der üblichen Begrüßungszeremonie stellte eine Vertreterin des Stadtplanungsamtes die Bebauungskonzeption vor. Das Gelände links und rechts der Geflügelzuchtanlage sollte in ein Neubaugebiet umgewandelt werden. Es waren lediglich Ein- und Zweifamilienhäuser geplant.

„Wer soll das bezahlen, wer hat für `ne Villa soviel Geld?“

„Wo bleibt der soziale Wohnungsbau?“

„Aber wir wollen doch die schöne Ansicht möglichst erhalten.“

„Dann hört auf mit dem Bebauungsunsinn!“

Klatschen. Die Frau vom Planungsamt kam für einen Moment aus dem Konzept, fing sich aber wieder. Sie schloß ihren Beitrag mit der Versicherung, daß die Anlage der Geflügelzüchter selbstverständlich in das geplante Neubaugebiet integriert werden sollte. Gelächter und Buhrufe. Erst als ein stämmiger Mann sich erhob, kehrte wieder Ruhe ein.

„Baader, im Vorstand der Goggelrobber, kann ganz schön unangehm werden, den möchte ich nicht zum Feind haben.“

„Dann soll wohl eine riesige Käseglocke über unsere Anlage gestülpt werden. Und am besten richtet ihr daneben einen Außenposten der Polizei ein. Damit die Anwohner nicht so einen weiten Weg haben, wenn sie sich über das Gockelgeschrei beschweren.“

Gelächter. Die Frau vom Stadtplanungsamt hatte sich gesetzt, und Stadträtin Singer, die den Zwischenrufer ignorierte, kündigte ein sehr bedeutendes Gutachten an. Fichtners Tischnachbar besorgte sich Nachschub und brachte unaufgefordert ein zweites Glas Hausmarke rot mit.

Von Unweltverträglichkeitsprüfung war die Rede.Kaltluftentstehungsgebiet . Lebensnotwendig für die Innenstadt. Die Frischluftschneise müsse mindestens 500 Meter breit sein. Bei einer Bebauung würde die Breite deutlich unterschritten. Das Gebiet sei zudem ein ökologisch sehr sensibler Bereich und weise wertvolle Biotope aus.

Die Zuhörer trommelten auf die Tische, trampelten mit den Füßen auf den Boden. Das Gutachten fand die allgemeine Zustimmung der versammelten Geflügelzüchter. Nur ein junger Mann am Eingang, durchgestylt, gegelte Haare, Dreitagebart, direkt einem Werbespot für Eau de Toilette entsprungen, schaute grimmig drein und schimpfte leise vor sich hin.

„Das gefällt dem schönen Uli nicht, kann ich mir gut vorstellen. Sohn vom Kohlenhändler Spitz, drei Straßen weiter. Die besitzen in dem umstrittenen Gebiet ein Grundstück. Sind angeblich total verschuldet, hoffen natürlich auf eine schnelle Umwandlung in Bauland, damit sie sich gesundstoßen können.“

Die grüne Versammlungsleiterin schaffte es nach ungezählten Versuchen endlich, den Geräuschpegel so zu senken, daß an eine Fortsetzung der Diskussion zu denken war. Sie dankte dem Referenten für das eindrucksvolle Gutachten und kündigte Stadtrat Trumpp an. Ein älterer Herr mit Anzug und Krawatte trat ans Mikrophon. Es wurde augenblicklich wieder unruhig im Saal.

„Bitte seien Sie doch fair, hören Sie dem Stadtrat zu.“

„Was, dem zuhören?“

„Halten Sie sich doch bitte an die demokratischen Spielregeln.“

„Stadtrat Trumpp, entschiedener Verfechter einer Bebauung. Hat den Stein eigentlich ins Rollen gebracht. In unserem Stadtteil gibt es kein Altenpflegeheim. Und er hat sehr geschickt die Bebauung mit dem Pflegeheim verknüpft. Und seine Intimfreundin aus der Lokalredaktion, Frau Müller-Erden, hat ihm mit Artikeln Schützenhilfe geleistet. Da vorne hockt sie übrigens, die Dame in dem hellgrünen Kostüm, wie die den alten Kerl anhimmelt. Wehe, irgendjemand tut ihrem Stadtrat was zuleide, dann wird sie zur Furie.“

Fichtners Tischnachbar hatte wieder ausgetrunken und wollte sich auf den Weg machen.

„Lassen Sie“, hielt Fichtner ihn zurück, „ich bin dran.“

Er nahm die leeren Gläser und zwängte sich durch die Reihen.

„Angesichts der unerträglichen Wohnungsnot ist es unsere vordringlichste Aufgabe, Wohnraum zu schaffen, das ist unsere allererste soziale Verpflichtung.“

„Hört, hört, exklusive Häuser für fünhunderttausend.“

Für Fichtner war die Umwandlung in ein Neubaugebiet nicht unbedingt von Nachteil. Tante Nellys Grundstück würde um einiges im Wert steigen. Klar, die schöne Silhouette, die Felder, die Ruhe, die wären dahin. Aber was ging ihn das an? Fichtner hatte nicht vor, sich in dieser Stadt niederzulassen. Und als Feriensitz?
Nein danke!

„Altenpflegeheim“, Stadtrat Trumpp ließ das Wort wie Butter auf der Zunge zergehen, „denken Sie an unsere älteren, pflegebedürftigen Mitbürger.“

Der Stadtrat drückte gewaltig auf die Tränendrüse. Er stieß auf wenig Gegenliebe bei seinen Zuhörern. Nur der Sohn vom Kohlenhandel Spitz klatschte begeistert. Sein Gesicht hatte sich merklich aufgehellt. Der Stadtrat hatte gerade geendet, als der alte Mann mit den blankpolierten Arbeitsschuhen die Versammlungsleiterin zur Seite drängte und mit sich überschlagender Stimme ins Mikrophon schrie: „Der Kerl hat drei Äcker. Habt ihr das gewußt? Der verdient sich eine goldene Nase, wenn hier gebaut wird.“

Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein.

Die Zuhörer sprangen auf, drängten zum Podest vor. Fäuste wurden in Richtung des Stadtrates geschleudert. Sein Lächeln im Gesicht war zu einem dämlichen Grinsen gefroren.

„Schauspieler, Spekulant.“

Stadträtin Singer breitete die Arme aus und stellte sich schützend vor den Stadtrat, mit dem sie politisch nichts, aber auch gar nichts verband. Trumpp duckte sich unwillkürlich in Erwartung des Ansturms. Die Geste wirkte lächerlich, weil zwischen ihm und den Zuhörern noch reichlich Platz war. Fichtners Tischnachbar brachte schon wieder eine Ladung Hausmarke rot an.

„Der Ehlers braucht sich gar nicht so aufzuregen. Nach dem Krieg haben einige hier gebaut, mehr oder weniger illegal, die alte Nelly war dabei, der Ehlers auch. Und ganz so klein ist dem Ehlers sein Grundstück schließlich auch nicht. Wenn er verkaufen würde, wäre er ein gemachter Mann.“

Ehlers, so hieß der Alte mit den blankpolierten Arbeitsschuhen, hatte inzwischen den Ausgang erreicht, drehte sich nochmals um, schrie: „Ihr werdet euch alle noch wundern“, wurde vom schönen Uli angerempelt, verlor das Gleichgewicht, rappelte sich auf und stolperte nach draußen. Baader vom Verstand der Geflügelzüchter hatte das Podest bestiegen und sich das Mikrophon gekrallt.

„Uns verteibt niemand aus unserer Anlage. Mit der Mistgabel in der Hand werden wir uns gegen Bagger und Planierraupen stellen.“

„Ich erkläre die Versammlung für beendet.“

„Mit der Mistgabel in der Hand.“

„Die Versammlung ist beendet.“

Frau Müller-Erden war zum Versammlungstisch geeilt und unterstützte Stadträtin Singer tatkräftig in ihrer Aufgabe, Stadtrat Trumpp vor der wütenden Meute zu schützen.

 

 

Fichtner besorgte sich aus dem Nebenzimmer einen Stuhl und versuchte, an den Rolladenkasten zu kommen. Noch zu niedrig. In der Ecke stand ein kleiner Hocker, den er auf den Stuhl stellte. Eine wacklige Angelegenheit. Fichtner wußte, daß die meisten tödlichen Unfälle im Haushalt passieren. Er entfernte das Brett vom Rolladenkasten, eine riesige Staubwolke umhüllte ihn. Als der Staub sich verzogen hatte, sah er, daß der Gurt aus der Führungsrolle gerutscht war und sich verheddert hatte. Die Instandsetzung des Rolladens erwies sich als schwieriger als angenommen. Erst nachdem Fichtner die Aufwickelrolle abgeschraubt, den Gurt vollkommen entfernt und neu eingefädelt hatte, eine wahre Fummelarbeit, kam er der Lösung näher. Er befestigte wieder das Brett und stellte den Stuhl zurück ins Nebenzimmer. Kurz vor sieben. Er ging zurück ins Schlafzimmer, testete den Rolladengurt, ohne einen Widerstand bewegte sich der Rolladen aufwärts, ließ das Licht der Straßenlaterne ins Zimmer fallen. Draußen war es neblig. Ein Novembertag aus dem Bilderbuch. Ob es die Sonne heute überhaupt schaffen würde? Fichtner starrte auf lehmverkrustete Absätze, die zu nicht mehr ganz so blankpolierten Arbeitsschuhen gehörten. Die Gurt ließ sich ganz leicht bewegen. Aber Fichtner stand bewegungslos da, blickte auf die Schuhe, die er kannte, die Schuhe, die langsam hin- und herpendelten. Eine beruhigende, einlullende Bewegung. Fichtner zögerte den Moment hinaus, obwohl er wußte, was er sehen würde, wenn er den Rolladen weiter nach oben zog. Der alte Mann auf dem Fahrrad, sein Auftritt auf der Versammlung gestern abend, den Rolladen ein Stückchen höher ziehen, blaue Arbeitshosen, dann die verschlissene Jacke, das Ihr-werdet-euch-noch-alle-wundern, Ehlers Zunge war dick und blau und drängte sich aus seinem linken Mundwinkel, das Straucheln, nachdem der schöne Uli ihn bedrängt hatte, der unrühmliche Abgang bei der Versammlung gestern abend. Ehlers baumelte an dem armdicken Ast des uralten, ausladenden Walnußbaumes in Tante Nellys Vorgarten.

 

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