Leseprobe aus:
"Mehr Morde im Quadrat"
Erzählungen (2016)
2007 erschien mein erster Krimiband, „Mord im Quadrat“. In den letzten Jahren sind neue Mordgeschichten entstanden. Zeit, sie in einer neuen Sammlung vorzustellen. Einige sind bis jetzt unveröffentlicht. Andere Erzählungen erschienen verstreut in verschiedenen Anthologien. Für den vorliegenden Band wurden sie alle überarbeitet. Morgen wird nicht
Sie könnte das Wort Volksschädlingsverordnung schreiben. Ich könnte sie auch anders anfangen lassen. „Mein Sohn, du sollst wissen, dass ich Hals über Kopf verliebt war. Dass ich so jung, der Mann so charmant war. Dass ich schwanger wurde. Dass ich durch ihn ins Milieu geriet. Dass ich viel zu spät aufwachte. Dass ich mich von deinem Vater getrennt habe. Dass er ein Zuhälter ist. Dass du ohne Vater und ohne Mutter aufwachsen wirst.“
Es geht auf Mitternacht zu. Sie hat nicht viel Zeit. Sie könnte ihrem Sohn von der Gutemannstraße in Mannheim erzählen. Ich könnte hinzufügen, dass der Name sich geändert hat, dass sie heute Lupinenstraße heißt, dass das Gewerbe das gleiche geblieben ist. Rita, das ist die Mutter, die ich den Abschiedsbrief schreiben lasse, betreibt mit ihrer Freundin Hedwig ein Bordell. Fünf Frauen arbeiten für sie. Sie könnte von den Schikanen der Behörden erzählen, sie würde berichten, dass sie zweimal wöchentlich zum Abstrich auf Geschlechtskrankheiten einbestellt wurde. Sie würde vom Ausgegrenztsein erzählen. „Mein Sohn, du sollst wissen, dass ich Spiel- und Sportplätze und Grünanlagen nicht betreten durfte, dass Theater und Lichtspielhäuser verboten waren, Gaststätten, Cafés.“ Der Zeiger der Uhr nähert sich der Zwölf. Gleich fängt der neue Tag an. Sie könnte mit der Bombennacht Mitte April anfangen. Dass sie die Nacht im Luftschutzbunker verbringen musste. Dass viele Häuser in der Gutemannstraße brannten. Dass eine Bombe in die Nummer 14 einschlug, das ist das Haus von Rita und Hedwig. Dass die Schäden zum Glück nicht so schlimm waren. Dass es das Nachbarhaus schlimmer erwischt hatte. Dass nur noch die Grundmauern standen. „Am Morgen kamen zwei Männer. Ich kannte die beiden. Sie arbeiteten für den Besitzer des Nachbarhauses, der auch ein Bordell betrieb. Die zwei Helfer gingen in den noch brennenden Keller und packten einige Körbe voll mit Spirituosen und Wein. Sie hielten sich nicht lange im Keller auf. ‚Einsturzgefahr, das ist uns zu gefährlich’, sagte der eine. Der andere stellte vier Flaschen Wein auf den Küchentisch. Alle unsere Frauen waren da. Ich feierte meinen dreißigsten Geburtstag. Jetzt weiß ich, dass es mein letztes Geburtstagsfest war. Wir öffneten die Flaschen. Die Stimmung war ausgelassen. Für kurze Zeit vergaßen wir sogar die Tiefflieger.“
Der Zeiger hat die Zwölf überschritten, der neue Tag hat angefangen. Den Sonnenaufgang wird Rita nicht mehr erleben. Sie muss Abschied nehmen von ihrem Sohn. Wie gerne hätte sie ihn noch einmal bei sich gehabt. Die Zeit drängt. Sie muss weitererzählen.
„Am Nachmittag stieg ich mit Hedwig in unseren Keller hinunter. Wir wollten uns die Schäden anschauen. In der Mauer zum Nachbarkeller war ein großes Loch. Zwischen der Glut fanden wir Weinflaschen, Lebensmittel und Präservative. Wir dachten uns nichts dabei, als wir mitnahmen, was wir tragen konnten.“ Sechs der Weinflaschen werden bei der Verhaftung von Rita und Hedwig noch ungeöffnet in der Ecke der Küche gefunden. Die Präservative, die sie an ihre Frauen verteilt haben, sind zum Zeitpunkt der Verhaftung längst aufgebraucht.
Der Zeiger der Uhr nähert sich der Zwei. Rita bleiben noch drei Stunden und einige Minuten. Erst im August, vier Monate nach der Bombennacht, erstattet der Nachbar Anzeige. Er beklagt sich, dass es bitter und hart genug sei, wenn man bei einem solchen Unglück Hab und Gut im Wert von über 90000 Reichsmark verliere. Um so mehr habe es ihn getroffen, dass er von solchen Parasiten auch noch um das Letzte beraubt worden sei. Rita könnte erzählen, wie sie und Hedwig am 7. August verhaftet und in Einzelhaft gesperrt werden.
„Mein Sohn, geht es dir gut? Was erzählen sie über mich? Gerne hätte ich dich noch einmal gesehen. Ich habe höflich angefragt, ob ich Besuch empfangen dürfe. Es wurde abgelehnt. Wir hätten es zusammen geschafft.“
Rita könnte von den endlosen Verhören erzählen, von den Schlägen, die ihr Gesicht entstellten, vom Prozess im November, der nur zwei Stunden dauerte, von den beiden Helfern, die, anfangs selbst angeklagt, nun als Kronzeugen auftraten, vom Staatsanwalt, der vorrechnete, dass drei Präservative achtzig Pfennige kosteten, die gestohlene Menge einen Wert von 150 Reichsmark habe, das sei keine Bagatelle.
Kurz nach vier klopft es an der Zellentür. Es ist der Priester. Rita will ihn nicht sehen. Der Priester schlägt ein Kreuz über dem Guckloch und ärgert sich, dass er mitten in der Nacht aufstehen musste. Wegen dieser Dirne. Rita könnte vom Richter erzählen, der sie und Hedwig wegen Plünderei nach Paragraf eins der Volkschädlingsverordnung zum Tode verurteilt wegen zwei Großpackungen Präservativen, sechs bis acht Pfund Zwiebeln, zwei Dosen Gurken, zehn bis fünfzehn Flaschen Wein. Rita könnte aus der Urteilsbegründung zitieren. Dass, wer sich an Hab und Gut der geschädigten Volksgenossen vergehe, sich außerhalb der Volksgemeinschaft stelle. Dass nicht umsonst in Mannheim überall Plakate angebracht seien mit der Aufschrift „Plünderer werden mit dem Tode bestraft“. Sie könnte vom Antrag des Staatsanwaltes berichten. Dass das Weihnachtsfest bevorstehe, dass eine öffentliche Bekanntmachung durch Maueranschlag, doppelt auffällig in den Trümmern der Stadt, wenig wünschenswert sei und bis nach dem Fest zurückgestellt werden sollte. Ich könnte hinzufügen, dass Ritas Sohn kein Grab wird besuchen können. Dass die Leichen von Rita und Hedwig der Anatomie in Heidelberg übergeben werden. Dass Ritas Schwester nur die Kleider der Hingerichteten ausgehändigt bekommt. Ich könnte hinzufügen, dass der Richter nach dem Krieg seine Pension bezieht, dass der Staatsanwalt Karriere als Landgerichtsdirektor macht. Rita könnte von der Angst erzählen, der Angst vor dem einen Augenblick.
Es ist halb fünf. Gleich werden sie Rita holen. Um Viertel vor fünf wird sich der Henker vom ordnungsgemäßen Zustand des Hinrichtungsgerätes überzeugen. Um fünf werden Rita die Haare abgeschnitten, ihr Nacken wird ausrasiert. Um zehn nach fünf wird sie in den Innenhof geführt. Um elf nach fünf wird sie festgeschnallt. Um zwölf nach fünf fällt das Beil. Der anwesende Arzt bescheinigt die Todeszeit. Unmittelbar danach wird Hedwig festgeschnallt.
Ich führe Ritas Hand. Die Hand zittert. Als sie den ersten Buchstaben schreibt, lässt das Zittern nach. „Mein Sohn, ich vermisse dich“, schreibt Rita auf das Blatt. Es ist der 22. Dezember 1943. Auf dem Gang höre ich Schritte.
(Copyright: beim Autor)
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