Mittwoch, 3. November
2010
eins
Am Morgen des 3. November 2010, es war ein
Mittwoch, stand sie wie jeden Morgen um 6:15 Uhr auf. Genau 37 Jahre war
sie mit ihrem Mann zusammen aufgestanden und hatte ihm das Frühstück
gemacht. Nachdem er als Prokurist in den Ruhestand gegangen war, hatte
er darauf bestanden, die während seines Arbeitslebens eingeübten Rituale
beizubehalten. Sie hatte ihm nicht widersprochen. Dann blieb er eines
Morgens liegen, als der Wecker klingelte. Sie wusste sofort, dass etwas
nicht stimmte.
„Plötzlicher Herztod“, diagnostizierte ihr
Hausarzt. Sein Herz habe einfach aufgehört zu schlagen.
„Ein Segen in diesem Alter“, fügte er noch
hinzu.
24 Jahre waren seit der Pensionierung
vergangen. Sie warf den Wecker in den Müll. Trotzdem wurde sie jeden
Morgen pünktlich um 6:15 Uhr wach. Sie hatte sich so an die Uhrzeit
gewöhnt, dass sie beschloss, weiterhin zur gewohnten Zeit zu
frühstücken. Wie jeden Morgen schaute sie auf das Thermometer. Elf Grad.
Zu warm für die Jahreszeit, dachte sie. Und es regnete. Klar, November.
Seit ihr Mann gestorben war, hatte der
November seinen Schrecken verloren. Im November war ihr Mann in seine
Depressionen verfallen. Jahr für Jahr. Seit sie ihn kannte. Sie hatte es
nie verstehen können. Vor zwei Jahren war er gestorben. Am 3. November.
Ironie des Schicksals. Für sie war der November ein Monat wie jeder
andere. Es gab keine Lieblingsmonate. Jeder Monat glich dem anderen. So
wie jeder Tag dem anderen glich. Man musste sich nach der Decke
strecken. Jeden Tag. Man durfte sich nicht hängen lassen. An keinem Tag.
Um Viertel nach sechs stand sie auf, machte sich das Frühstück, ein
Honigbrot und eine Tasse Kaffee, schwarz. Seit ihr Mann gestorben war,
trank sie morgens wieder Kaffee. Er hatte ihn nicht vertragen. Also
Kräutertee. Aber auch der hatte ihm Herzrasen verursacht.
Es war nicht so, dass sie ihren Mann nicht
vermisste. Sie hatte sich in den vielen Jahren ihrer Ehe an ihn gewöhnt.
Und jetzt fehlte er ihr. Die Einsamkeit machte ihr zu schaffen. Aber es
gab Momente, da atmete sie durch und war froh, dass sie seinen Launen
nicht mehr ausgesetzt war. Besonders im November. In diesen Momenten
empfand sie ein Gefühl der Schuld.
Sie holte den Rhein-Neckar-Anzeiger aus dem
Briefkasten, setzte sich an den kleinen Glastisch im Wohnzimmer und
studierte die Zeitung. Es interessierte sie nicht, dass es im Kanzleramt
einen Bombenalarm gegeben hatte. Die Aufregung über Testbilder aus fünf
Städten, die Google im Internet zeigte, konnte sie nicht verstehen. Dass
Kachelmann seine TV-Karriere beendet hatte, ging ihr nach. Sie hatte den
Wettermoderator gerne gesehen.
Am Nachmittag würde sie auf den Friedhof
gehen. Das hatte nichts mit dem Todestag ihres Mannes zu tun. Zweimal
die Woche ging sie zu seinem Grab auf dem Friedhof neben dem
Feudenheimer Wasserturm. Immer mittwochs und samstags. Und um halb zwölf
würde sie sich in die Kirche setzen, zuerst beten, dann nachdenken. Das
machte sie jeden Tag. Von Montag bis Samstag. Am Sonntag besuchte sie
die Messe um elf bei Sankt-Peter-und-Paul.
„Mein täglicher Ausflug in die Kirche hält
mich fit“, sagte sie zu ihrer Tochter. „Da komme ich auch mal unter
Leute.“
Um zehn vor halb zwölf verließ sie ihre
Wohnung in der Weinbergstraße. Um vier vor halb zwölf winkte ihr die
Besitzerin des Zeitschriftenladens in der Hauptstraße zu. Sie winkte
zurück. Pünktlich um halb zwölf drückte sie die Eingangstür der Kirche
auf. Wie jeden Tag musste sie ihre ganze Kraft aufwenden, um die Tür
aufzustemmen. Wie jeden Tag empfand sie es im Kirchenraum als duster.
Egal, ob es ein grauer, verregneter Novembertag wie heute war oder ob
die Sonne am Himmel strahlte. Die dunklen, bleigefassten Fenster. Hier
konnte man in der Tat in Depressionen verfallen. Sie lächelte. Sie war
kein Typ, der Depressionen bekam. Sie stand jeden Morgen auf, weil es
keinen Stillstand geben durfte. Meist war das Kirchenschiff leer. Das
war ihr recht so. Unter Leute kommen. Sie sagte das, weil ihre Tochter
es gerne hörte.
Heute war sie nicht allein in der Kirche. In
der zweiten Reihe links der Apsis, außen bei den Fenstern zum Hof, saß
ein Mann. Er hatte seine Stirn auf die Bank gelegt. Seine Hände lagen
links und rechts neben dem Kopf. Er schien konzentriert, in sich
versunken. Sie ging auf Zehenspitzen, ein Impuls, den sie nicht steuern
konnte. Sie wollte den Mann nicht in seiner Andacht stören. Sie setzte
sich auf ihren Stammplatz. Letzte Reihe im vorderen Kirchenschiff,
rechts außen. Hier saß sie, solange sie denken konnte. Jeden Sonntag.
Früher neben ihrem Mann, jetzt alleine. Und seit sie allein war, auch
jeden Montag bis Samstag. Sie faltete die Hände und sprach in Gedanken
mechanisch die Gebete. Der Mann in der zweiten Reihe hatte sich noch
nicht bewegt. Nach kurzer Zeit beendete sie ihre Gebete. Nachdenken, das
war ihr wichtig. Oder an nichts denken. Ihr Blick fiel auf die
Seidenmalerei an der Südseite des Querschiffes. Von der Decke bis zum
Boden reichend, zweibahnig, drei Meter breit und zehn Meter hoch. In
dunklen Farben gehalten. Passend zu den Fenstern. Passend zum November.
Passend zu Depressionen. Die Marienstatue von 1788 neben der
Seidenmalerei, anscheinend ein wertvolles Stück. Die Madonna schien den
Mann in der zweiten Reihe mitleidig zu mustern. Oder überheblich. Der
Blick von oben herab. Jetzt tat der Mann ihr irgendwie leid. Sie schloss
die Augen. Dachte an ihren Mann. Ganz am Anfang ihrer Beziehung. Sie
beide blutjung.
Als sie die Augen aufschlug, saß der Mann
immer noch unbeweglich in der zweiten Reihe. Die Hände lagen links und
rechts auf der Bank. Eine unnatürliche Haltung, fand sie. Sie schaute
auf die Uhr und erschrak. Zwanzig nach zwölf. Sie musste eingenickt
sein. Das passierte ihr sonst nicht. Oder sie merkte es nicht. Fast eine
Stunde war vergangen, seit sie die Kirche betreten hatte. Kann ein
Mensch so in sich versunken sein, dass er eine Stunde regungslos
verharrt? In einer unbequemen Haltung. Irgendetwas stimmte da nicht. Sie
zog ihre Brille ab, kniff die Augen zusammen, damit sie den Mann da
vorne genauer erkennen konnte. Der dunkle Nacken, den sie fixierte. Die
gekrausten Haare. Der Mann war ein Schwarzer. Ein Neger, hatte ihr Mann
immer gesagt. Seit ihre Tochter ihn das erste Mal zurechtgewiesen hatte,
das sei politisch nicht korrekt, hatte sie das Gesicht verzogen, wenn
ihr Mann das Wort in den Mund genommen hatte. Gesagt hatte sie selbst
nie etwas. Genauso, wie sie nichts gesagt hatte, wenn ihr Mann über die
Juden hergezogen war. Den Mann in der zweiten Reihe kannte sie. Seit
einigen Jahren nahm er am Sonntagsgottesdienst teil und seit einigen
Monaten stand er am Ende des Gottesdienstes an der Ausgangstür, den
Klingelbeutel in der Hand. Am Erntedankfest hatte sie ihn in Begleitung
seiner Frau gesehen, einer weißen Frau. An jeder Hand ein kleines Kind,
ein Junge und ein Mädchen. Kaffeebraun. Ob ihre Tochter ihr das
durchgehen lassen würde? Der Junge fünf oder sechs Jahre, das Mädchen
jünger, noch keine zwei. Es war noch wacklig auf den Beinen. Ein
hübsches Paar. Eine glückliche Familie. Sie hatte den Pfarrer beim
Seniorenkaffee nach den Leuten gefragt.
„Ein zutiefst gläubiger Mensch“, hatte der
Pfarrer geantwortet. „Flüchtling, aus Ruanda, Sie wissen.“
Der Pfarrer hatte den Namen des Mannes
genannt, aber den hatte sie sich nicht merken können. Der Pfarrer nannte
ihn Bruder Samuel und lächelte dabei. Bruder Samuel. Den Namen konnte
sie behalten.
Sie hatte genickt, obwohl sie nichts wusste.
„Hat Schlimmes durchgemacht.“
Wieder hatte sie genickt und nicht
nachgefragt. Hatte die Informationen des Pfarrers sofort ausgeblendet.
Wollte ihr Bild einer glücklichen Familie konservieren. Wenn sie Geld in
den Beutel geworfen hatte, hatte der Mann ihr jedes Mal zugenickt und
gelächelt. Die Weihnachtskrippe fiel ihr ein. Sie, ein kleines Mädchen.
Sieben Jahre oder acht. Die Spendenbüchse. Der kleine Negerjunge
dahinter. Negerjunge. Niemand hatte sich damals an dem Wort gestört. Der
Negerjunge, der genickt hatte bei jeder Münze, die sie in die
Spendenbüchse geworfen hatte. Und sie hatte ihr gesamtes Taschengeld
gespendet. Damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
Irgendwann war der Negerjunge verschwunden gewesen. Aber da war sie
schon älter und hatte andere Interessen.
Sie rutschte aus der Bank, stand auf und
ging auf Zehenspitzen den Mittelgang nach vorne. In der vierten Reihe
zwängte sie sich durch die Bank. Sie konnte später nicht sagen, warum
sie das gemacht hatte. Sie hätte vor gehen und sich dem Mann, der so
strahlen konnte, von vorne nähern können. Sie wählte diesen unbequemen
Weg.
Ich muss etwas geahnt haben, sagte sie sich.
Am Ende der Bankreihe saß er schräg vor ihr.
Fast hätte sie ihn berühren können. Sie machte zwei, drei Schritte,
zögernd, vorsichtig.
„Ist Ihnen nicht gut?“, sagte sie.
Keine Reaktion. Da stimmte doch etwas nicht.
Vielleicht hatte sie zu leise gesprochen, sodass er sie nicht verstanden
hatte. Sie räusperte sich und machte einen Schritt auf ihn zu+. Ein
Geräusch, das sie nicht einordnen konnte, ließ sie zu Boden schauen. Ihr
linker Schuh stand in einem roten Fleck.
„Herr im Himmel“, sagte sie und wunderte
sich über die Lautstärke, mit der ihre Worte in der Kirche widerhallten.
Der Mann vor ihr blieb unbeeindruckt. Sie machte einen Bogen um den
Fleck und stand jetzt vor der ersten Reihe, die Madonna im Rücken.
Ich sehe ihn mit ihren Augen, dachte sie.
Nicht überheblich hatte die Madonna ihn angeschaut, mitleidig, sie hat
ihn mitleidig angeschaut. Und traurig. Nein, das war keine rote Farbe.
Es musste Blut sein. Sein Blut.
Seine Handgelenke, das bemerkte sie beim
genauen Hinsehen, waren mit Kreppband an der Bank befestigt. Die Finger
standen unnatürlich ab, sie konnte nicht sagen, warum. Ihr wurde
schwindlig. Sie schaute sich nach allen Seiten um. Sie schien allein zu
sein. Sie setzte sich auf die Bank.
Wie gebrochen, dachte sie. Die Finger sehen
aus wie gebrochen. Sie atmete ein, atmete aus, versuchte, sich zu
beruhigen. Als ihr Puls langsamer ging, drehte sie sich um, wollte das
Gesicht des Mannes sehen. Es gelang ihr nicht. Der Blickwinkel war zu
ungünstig. Und weiter umdrehen ging nicht. Ihre Halswirbel machten nicht
mit. Sie ging zur zweiten Reihe, achtete darauf, nicht noch einmal mit
dem Blut auf dem Kirchenboden in Berührung zu kommen. Sie stellte sich
neben den Mann, versuchte erneut, ihm ins Gesicht zu schauen. Gar nicht
so einfach. Der Mann lag schließlich mit der Stirn auf der Betbank. Ihr
Blick wanderte tiefer. Dann sah sie es. Sie streckte ihren Hals vor, um
besser sehen zu können. Ihr Blick fixierte den Griff des Messers, das
dem Mann aus der Brust ragte. In einer Schnelligkeit, die man ihr nicht
zugetraut hätte, verließ sie die Bankreihe und rannte zurück zu ihrem
Sitz. Nichts würde mehr sein, wie es gewesen war. Ihr täglicher Besuch
in der Kirche. In der zweiten Reihe am Fenster würde der schwarze Mann
sitzen, die Stirn auf die Bank gelegt. Die Hände mit Klebeband
festgeklebt. In der Brust das Messer. Jeden Tag würde sie das Bild vor
sich sehen. In ihrer Tasche, die sie an den Haken gehängt hatte, kramte
sie nach ihrem Handy. Ein Geschenk ihrer Tochter vorletzte Weihnachten.
(Copyright: Wellhöfer Verlag Mannheim)
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