Ortschronik

 

 

Der Himmel über dem Sandbachtal hatte sich aufgeklart. Zwischen den Buchenstämmen glänzte das Laub in der Nachmittagssonne. Lars Blank überlegte, wann er das letzte Mal durch einen Wald gegangen war. Er konnte sich nicht erinnern.

Er war vor zwei Monaten fünfundvierzig geworden und galt in Fachkreisen als einer der versiertesten Wirtschaftsanwälte des Landes. Seine amerikanische Zulassung hatte ihn zum Experten für Firmenübernahmen und Fusionen mit deutsch-amerikanischer Beteiligung werden lassen. Einige der bedeutendsten Fusionen der letzten Jahre trugen seine Handschrift. Er verdiente viel Geld, und er hatte wenig Zeit hatte, es auszugeben. Er hatte eine kinderlos gebliebene Ehe mit Anstand hinter sich gebracht und lebte mit Janine Vogel zusammen, einer selbstbewussten Frau, die einen Laden für Designschmuck aus den zwanziger und dreißiger Jahren betrieb.

Lars Blank hatte viel erreicht, mehr, als er sich zu Beginn seines Studiums hatte träumen lassen. Aber etwas stimmte nicht in seinem Leben.

Eigentlich lebte er zwei Leben. Doch diesen Gedanken zu vertiefen, würde er keine Zeit mehr haben. Aber das wusste Lars Blank in diesem Augenblick noch nicht. Er schaute auf die Uhr. Zehn vor fünf. Er hatte noch ein wenig Zeit. Um Fünf war er mit seinem Informanten verabredet. Vor Blank tauchte der Teufelssee auf. Er war überrascht über den niedrigen Wasserstand. Das hatte er anders in Erinnerung. Wann war er zum letzten Mal mit seinen Eltern hier gewesen? Eine Ewigkeit musste das her sein. Er setzte er sich auf eine Bank vor der Hütte, die nur an Sonn- und Feiertagen bewirtschaftet war. Er schloss die Augen. Zitronenlimo und Leberwurstbrot. Das hatte es hier immer gegeben. Plötzlich hörte er das Knacken eines Astes, dann eine laute Stimme.

„Du wirst keine Lügen mehr verbreiten, du Schmierfink!“

Er riss die Augen auf, wollte nach dem Pfefferspray greifen, wollte aufspringen, doch dazu kam er nicht mehr. Lars Blank sah im Gegenlicht der tief stehenden Sonne nur die schemenhafte Gestalt eines Mannes, der hinter einem Buchenstamm aufgetaucht war, sah, dass der Mann den Arm hob, dass er in der Hand eine Pistole hielt, den Zeigefinger am Abzug. Weit entfernt hörte Blank einen Knall. Es stimmt wirklich etwas nicht mit meinem Leben, war sein letzter Gedanke. Den zweiten und den dritten Schuss bekam er nicht mehr mit. Da lag er schon ausgestreckt neben der Bank.

Hätte Blank die Möglichkeit einen Blick auf sich selbst zu werfen, ihm würde beim Anblick der eigenen Leiche ein Vers aus einem Biermann-Lied einfallen, auf dem der Lehrer früher herumgeritten war.

„Lag er im grünen Gras – blühten drei rote Nelken blutrot auf seiner Stirn so blass.“

 

 

Flugzeugmotoren zerreißen die Stille der Nacht. Sie scheinen von allen Seiten zu kommen. Der Kanonier am Flakgeschütz eröffnet das Feuer. Und dann brennt eine Maschine. Der Pilot versucht, sein Flugzeug hochzureißen. Das schlägt fehl. In einem Garten hinter der Turnhalle geht der Flieger nieder. Er bleibt mit dem Fallschirm im Apfelbaum hängen. Das Bein tut weh und die Schulter. Ganz in der Nähe schlägt eine Bombe ein. Dann wird es ruhig. Nur der Feuerschein ringsum. Im Haus da vorne geht die Tür auf. Verdammter Fallschirm. Er zittert, hat Angst. Zwei Gestalten kommen näher.

„Das ist zu gefährlich“, sagt die eine.

„Und wenn er verletzt ist, Marie?“

Jetzt stehen sie vor ihm. Es sind zwei Frauen. Sie schneiden den Fallschirm ab, er fällt auf den hart gefrorenen Gartenboden. Sie ziehen ihn hoch, legen sich seine Arme über die Schultern. Drinnen im Haus verbindet die eine die Wunden.

„Ich hab die Flak gerufen“, sagt die, die Marie heißt. „Die holen ihn gleich ab.“

Die Angst und das Zittern sind weg. Sie sitzen in der Küche, als es an der Haustür klopft.

„Endlich, die Flak“, sagt Marie.

Es ist nicht die Flak.

„Heil Hitler, wo ist der Kerl?“

Anton Koppmann, der Ortsgruppenleiter der NSDAP und Feldschütz im Dorf.

Der englische Flieger sieht Koppmann, sieht seine Augen. Da ist wieder die Angst, wie vorhin, draußen im Garten.

 

 

Ich hätte keine Gefühle, warf mir meine Frau vor und reichte die Scheidung ein. Ich war überrascht, aber war ich auch berührt, getroffen? Eher erleichtert. Das Leben mit Susanne war anstrengend gewesen, die vielen Familienfeiern, der Freundeskreis, der gepflegt werden musste. Ich war froh, als die Scheidung ohne Komplikationen über die Bühne gegangen war. Mit Janine ist es anders. Sie ist eher wie ich. Es herrscht eine gewisse Distanz, die ich schätze. Und ob sie mich wirklich liebt, ich weiß es nicht. Und wenn ich ehrlich bin, es ist mir nicht so wichtig.

Lars Blank, der brillante Anwalt, die große Hoffnung. Dass ich nicht lache! Sicher, ich habe Erfolg, verdiene überdurchschnittlich gut. Aber liebe ich meinen Job? Vielleicht hatte Susanne Recht. Ich bin nicht gerade gefühlsbetont, auch in meinem Job nicht. Manchmal glaube ich, neben mir zu stehen, mich aus der Ferne zu beobachten. Und was ich sehe, gefällt mir nicht. Ein smarter Typ, der sein Ding durchzieht, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was die gerade anstehende Firmenübernahme für die Betroffenen bedeutet. Was geht es mich an, dass Hunderte ihren Arbeitsplatz verlieren? Diese Gedanken nahmen vor einem Jahr zu, krallten sich in meinem Kopf fest, beherrschten mich. Selbst abends bei einem Rotwein von Faustino kam ich immer wieder darauf zurück. Durch Zufall landete ich auf dieser Seite von Wikipedia. Es ging um die Kreisstadt. Dort hatte ich 1980 Abitur gemacht. Ich war fasziniert. Vor allem der Beitrag zur Geschichte packte mich. Schon in der Schule war das eines meiner Lieblingsfächer. Als ich den Namen meines Geburtsortes eingab, Fehlanzeige. Vor einem Jahr fing ich an, einen Beitrag über das Dorf, aus dem ich stamme, ins Netz zu stellen. Jede freie Minute verbringe ich damit, diesen Beitrag zu erweitern. Wenn ich zerschlagen von irgendwelchen öden Sitzungen nach Hause komme, die Arbeit an der Ortschronik gibt mir Kraft. Und wird gewürdigt. Vor vier Wochen erhielt der Beitrag das Prädikat „lesenswert“. Nur drei Promille aller Wikipedia-Artikel erhalten diese Auszeichnung. Selbst der Bürgermeister hat mir gratuliert. Im Urlaub recherchiere ich vor Ort. Mutter wundert sich schon, warum ich sie so oft besuche und so viele Fragen stelle. Nur mit Janine gibt es neuerdings Probleme. Ich würde sie vernachlässigen. Sie merkt nicht, dass ich mich verändere. Ich habe zwar weniger Zeit für sie, aber ich höre zu, interessiere mich.

 

 

Als sie sich der Waage nähern, verlangsamt Koppmann den Schritt. Für einen Moment spürt der englische Gefangene nicht den Lauf der Pistole im Rücken.

„Langsam, Kerl“, zischt Koppmann.

Der Flieger begreift den Sinn, obwohl er die Worte nicht versteht. Koppmann bleibt auf der Waage stehen, der englische Flieger, der ganz jung war, bleibt ebenso ruckartig stehen.

„Jetzt reden wir mal deutsch.“

Der englische Flieger spürt den Gewehrlauf im Nacken. Niemand wird etwas gesehen, etwas gehört haben.

„Zwischen halb zwölf und Mitternacht“, wird der Dolmetscher im Prozess übersetzen.

 

 

Im Juli landete ich einen Volltreffer. Ich erweiterte die Ortschronik um ein Kapitel zum Zweiten Weltkrieg. Meine Mutter hatte mir von einem Vorfall erzählt, bei dem ein englischer Flieger über dem Dorf abgeschossen und vom Obernazi hinterrücks ermordet worden war. Ich ging zur Gemeinde, durfte im Keller die alten Aktenschränke durchwühlen. Und fand viele Dokumente zu dem Vorfall, Zeugenaussagen, Abschriften von Gerichtsprotokollen, Zeitungsberichte aus dieser Zeit. Anfang August wurde mein Artikel anonym geändert. Wikipedia ist eine offene Plattform. Die Stärke ist zugleich Schwäche. Jeder kann schreiben, ändern, wie er will. Die regionale Presse hat die Sache groß herausgebracht. Und die geänderte Version habe ich unter einem Link gesichert. Für jeden einsichtig!

 

 

„Am 21. Februar 1945 wurde ein englischer Flieger, der verwundet in Gefangenschaft geraten war, vom Ortsgruppenleiter der NSDAP, Anton Koppmann, auf Befehl erschossen. 1946 wurde der Ortsgruppenleiter, welcher sich freiwillig stellte, von einem britischen Militärgericht zum Tod verurteilt und ein halbes Jahr später widerrechtlich hingerichtet. 2006 wurde die auf Befehl getane Tötung von dem Schmierfinken Blank ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt, ohne die Angehörigen zum Geschehen zu befragen.“

 

 

Gestern erhielt ich eine Mail. Ein Egon Saalfeld untersagte mir, wie er es formuliert, den Namen des Herrn Anton Koppmann in den Schmutz zu ziehen. Ich hätte einen Artikel geschrieben, der nicht der Wahrheit entspreche. Ich würde Herrn Koppmann als mordgieriges Monster darstellen, ohne ihn zu kennen. Wieso ich denn nicht zu ihnen gekommen sei und mich direkt informiert habe. Ich könne mich ja mit ihnen in Verbindung setzen. Es folgte eine Telefonnummer. Unterschrieben war die Mail mit „Familie Koppmann und Angehörige“. Ich war überrascht, dass noch Angehörige von Anton Koppmann im Dorf lebten. Mutter hatte nie darüber gesprochen. Ich setzte mich mit Mutter in Verbindung. Die war natürlich bestens informiert. Egon sei der Sohn vom Koppmann, 1944 geboren. Gemeindeangestellter. Wie sein Vater, dachte ich für mich. Nach seiner Heirat habe er den Namen seiner Frau angenommen. Ein aufbrausender, jähzorniger Mensch. Ich solle mich ja in Acht nehmen. Ich sagte Mutter, sie sehe Gespenster. Sie wollte mir noch von der alten Frau Koppmann erzählen, die vor drei Jahren im Alter von 97 Jahren gestorben war, aber ich beendete das Gespräch, weil ich noch Saalfeld anrufen wollte. Da es schon nach zehn war, ließ ich es bleiben. Heute bin ich früh nach Hause gekommen und habe sofort mit Koppmanns Sohn telefoniert. Ich weiß nicht, was Mutter hat. Er war am Telefon äußerst freundlich, ja zuvorkommend. Als er mir mit ruhiger Stimme erzählte, dass letzte Nacht die Worte „Mörder raus“ an ihr Haus gesprüht worden seien, hätte ich durchaus verstehen können, wenn er aufgebraust wäre. Sein Vater habe in Notwehr gehandelt. Das könne er mit unveröffentlichten Unterlagen beweisen. In zwei Stunden treffe ich mich mit ihm am Teufelssee. Er wollte mir den Weg beschreiben. Ich unterbrach ihn. Mindestens zweimal im Jahr zerrten mich meine Eltern als Kind durch das Sandbachtal zum See. Wie ich den Fußmarsch hasste! Ich weiß nicht, warum Saalfeld einen so abgelegenen Treffpunkt wählte. Als ich die Tür abschließe, vergewissere ich mich mit einem Griff in die Jackentasche, dass ich das Pfefferspray auch wirklich eingesteckt habe. Nur für alle Fälle. Ich bin gespannt, was er mir erzählen wird.

 

(Ein überarbeitete Fassung ist erschienen in: "Mord im Quadrat".)

 

 Walter Landin, September 2006