Sekt oder Selters

 

Der Anfang. Es komme auf den Anfang an. In einer Anleitung zum kreativen Schreiben habe ich das gelesen. Ich lasse ihn den Brieföffner in den Schlitz schieben. Seine Hand zittert. Wie hat er auf den Brief gewartet, ist seit Tagen jeden Morgen mehrmals zum Briefkasten gerannt, hat aufgeregt den Schlüssel gedreht, dann jedes Mal die Enttäuschung, wenn der Briefkasten leer, wenn der erhoffte Brief nicht unter den Werbesendungen und Belanglosigkeiten gewesen ist, die Tag für Tag den Briefkasten verstopfen. Ich lasse ihn den Brieföffner bis zum Anschlag schieben, ich denke mir Schweißperlen auf die Stirn. Sekt oder Selters. Ich lasse ihn über den abgegriffenen Vergleich lächeln. Für eine Sekunde weicht die Anspannung. Der Hauptgewinn, das große Los. Oder eine Niete. Wer ist bloß auf dieses Thema gekommen. Eher für eine BWL-Klausur geeignet. Aber ein literarischer Wettbewerb? Endlich lasse ich ihn den Brief in Händen halten. Ich lasse die Anspannung wieder da sein, dieses Mal mit Macht. Er atmet tief durch, einmal, zweimal, noch einmal. Langsam kehrt die Ruhe zurück, zumindest äußerlich. Nun setzt er den Brieföffner an, zieht ihn mit einem Ruck nach oben. Ein zischendes Geräusch. Er hört mitten in der Bewegung auf. Der Brief ist zur Hälfte geöffnet. Er schiebt den Umschlag ein Stück zur Tischmitte, so als ob er sich innerlich distanziere. Ich könnte einen Vater erfinden, könnte ihn in einer Stunde nach Hause kommen lassen. Ich würde ihn nichts sagen, ihn keine Fragen stellen lassen, all die Wochen über hätte er nichts gesagt, hätte keine Vorwürfe gemacht, wer Arbeit finden will, ich war mir auch nicht zu schade, die üblichen Klischees. Nur angeschaut hätte ihn mein erfundener Vater und sein Blick hätte Bände gesprochen, wäre schlimmer gewesen als jeder Vorwurf. Ich könnte eine Mutter hervorzaubern, eine Mutter, die anders wäre, die ausflippte, losschrie, ihm Vorhaltungen machte, häng nicht so rum, nimm dein Leben in die Hand, zeig Initiative, aber ich würde sie ihn auch in den Arm nehmen lassen, sie würde ihn drücken. Er spürt ihre Liebe, nicht so schlimm, du schaffst das schon, alles wird gut werden. Dagegen Vaters Blicke. Ich darf nicht zu weit abschweifen, darf das Thema nicht vergessen. Warum lasse ich ihn den Brief nicht einfach öffnen? Warum verschaffe ich ihm nicht Gewissheit? Habe ich Angst vor einem eindeutigen Schluss? Möchte ich den Leser lieber im Unklaren lassen? Verspüre ich eine Lust mit Andeutungen zu jonglieren? Macht es mir Spaß, bedeutungsschwangere Spuren auszulegen, Spuren, die in die Irre führen? Soll ich ihn mit der Enttäuschung konfrontieren? Ihn? Wen? Den Leser? Meinen Protagonisten? Ich muss aufpassen, dass mir die Fäden nicht entgleiten. Und das Thema, ich darf das Thema nicht aus dem Blickfeld verlieren. Ich lasse ihm die letzten Wochen und Monate noch einmal durch den Kopf gehen. Die Abschlussfeier an der Realschule. Die schönen Reden. Nicht für die Schule. Unsinn! Er hatte für die Prüfungen gepaukt und sonst nichts. Er hatte ein gutes Abschlusszeugnis erhalten, nicht überragend, kein Hauptgewinn, endlich wieder ein Bezug zum Thema. Lauter Zweien, nur in Mathe und Physik eine Drei. Und ein Buchpreis für hervorragende Leistungen im Fach Ethik, so stand es auf der Urkunde. Ich lasse ihn Bewerbungen schreiben, eine nach der anderen. Bei fünfzig hören wir mit dem Zählen auf. Und täglich lasse ich den Briefträger Absagen in den Briefkasten stecken. Dann endlich eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Er ist aufgeregt gewesen, hat sich aber ganz gut geschlagen, so lasse ich ihn zumindest denken. Wir melden uns in ungefähr zwei Wochen. Die sind vergangen, ohne dass eine Nachricht gekommen wäre. Seitdem ist er jeden Morgen mehrmals zum Briefkasten gegangen. Immer vergeblich. Heute endlich der Brief. Das große Los, der Hauptgewinn. Die Zusage. Oder die Niete, der Sturz ins Nichts. Die Absage. Er gibt sich einen Ruck, greift nach dem Brief, schiebt den Brieföffner zum zweiten Mal in den Schlitz. Seine Hand zittert immer noch. Hier könnte ich abbrechen. Offener Schluss. Könnte Pluspunkte bringen. Kommt auf die Jury an. Oder doch lieber weiterschreiben? Drei Seiten, pro Seite 1800 Anschläge. Noch ist die Vorgabe nicht ausgeschöpft. Ich lasse ihn den Brief endgültig öffnen, ihn das Blatt aus dem Umschlag ziehen. Und muss mich schon wieder entscheiden. Sekt oder Selters? Tut uns leid, anderweitig vergeben, bedanken uns, wünschen auf dem weiteren Lebensweg. Und so weiter. Aber wirkt so ein Ende nicht deprimierend? Der Schluss. Entscheidend sei der Schluss. Habe ich in einem Schreibhandbuch gelesen. Ich sollte es mit einem optimistischen Schluss versuchen. Er bekommt seinen Hauptgewinn, seinen Sechser im Lotto, die Zusage für den Ausbildungsplatz. Drifte ich nicht ins Banale ab? Der Schluss. Entscheidend sei der Schluss. Da könnte was dran sein, denke ich und schiebe den Brieföffner in den Schlitz. Meine Hand zittert. Wie habe ich auf den Brief gewartet. Ich schiebe den Brieföffner bis zum Anschlag. Mir könnten Schweißperlen auf der Stirn stehen. Aber das wäre vielleicht zu viel des Guten. Sekt oder Selters? Ich könnte über den abgegriffenen Vergleich lächeln und für eine Sekunde weicht die Anspannung. Der Hauptgewinn, das große Los. Oder eine Niete. Ich lasse mich den Brief vollständig öffnen. Leider anderweitig vergeben. Bedanken uns für Ihre Teilnahme. Wünschen bei künftigen Ausschreibungen viel Erfolg. Der Schluss. Entscheidend sei der Schluss. Ich lege die Blätter aus der Hand, bin auf deine Reaktion gespannt. Du nickst. Was meinst du damit? Sekt oder Selters? Du lässt mich zappeln. Und? Meine Neugier. Gute Ansätze. Könnte was draus werden, sagst du nach einer Ewigkeit. Lass das Ganze sich mal setzen und geh dann an die Überarbeitung. Wenn du entsprechend feilst, straffst, streichst. Du hast gut reden. Morgen ist Einsendeschluss.