Verbissen

 

Sie wollte es sich lange nicht eingestehen. Er war gefährlich. Und er hatte sie in der Hand, besaß Macht über sie, spielte mit ihr. Er kam aus einer anderen Welt, einer Welt, die so ganz verschieden war von der Welt, aus der sie gekommen war. Mit ihm war dieser Kitzel in ihr Leben getreten. Diese Erregung. Dieses Verlangen. Die Lust an der Gefahr. Mit ihm hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, wirklich zu leben.

 

 

Das Telefon läutete, Bettfedern knarrten, Finger tasteten vorsichtig auf den Nachttisch. Bloß aufpassen, dass die Taschenuhr nicht zu Boden fiel. Die Reparatur beim letzten Mal war Lauer teuer zu stehen gekommen. Endlich fand er sein Handy.

„Hallo? Ja, am Apparat. Eine Leiche? Ja. Halbe Stunde. Mindestens.“

 

 

Sie saß in ihrem Auto und wartete. Ziellos war sie durch die Gegend gefahren. Wollte nur weg. Weg von der Bevormundung durch ihre Eltern. Hast du dir schon Literatur für die Hausarbeit besorgt? Du wolltest doch beim Professor vorsprechen? Meinst du, das wäre der passende Aufzug? So kannst du doch nicht in die Vorlesung gehen! Jetzt war der Tank leer. Sie war in einem Kaff gelandet, in dem nichts los war, selbst an der Zapfsäule war sie allen. Der Mann an der Kasse hatte einen Spruch losgelassen, über den sie nicht hatte lachen können. Sie war neben der Zapfsäule stehen geblieben. Ein Knall ließ sie hochfahren. Ein Schuss, dachte sie zuerst. Sie schaute um sich, entdeckte aber nichts Auffälliges. Sicher eine Fehlzündung. Sie legte ihren Kopf auf das Lenkrad und schloss die Augen. Wir wollen dir ja nicht reinreden, aber wir würden das Referat anders strukturieren. Hast du auch wirklich für die Klausur gelernt? Wir wollen doch nur dein Bestes. Plötzlich riss jemand die Beifahrertür auf. Sie wusste nicht, wie viel Zeit seit dem Knall vergangen war. Drückte etwas Kaltes, Metallenes an ihrer Schläfe. Als sie aufschauen wollte, verstärkte sich der Druck.

„Losfahren! Mach schon! Auf, auf!“

Eine junge Stimme. Eine Männerstimme. Aggressiv. Keinen Widerspruch duldend. Wenn er jetzt abdrückte? Sie stellte sich viele kleine Explosionen vor. Sie wunderte sich, dass sie keine Angst hatte. Sie drehte den Schlüssel um und ließ die Kupplung kommen.

„Mach schon! Schneller.“

Sie trat das Gaspedal voll durch. Die Reifen heulten auf.

„Da vorne links.“

Weit entfernt hörte sie eine Polizeisirene.

 

 

Lauer, den einen Arm schon in der Jacke, verschluckte sich am Leitungswasser, das er in sich hineinschüttete. Er hatte sich hastig angezogen, ein Stück Brötchen von gestern verschlungen, auf einen heißen Kaffee verzichtet. Er steckte seinen Dienstausweis ein. Es kam öfter vor, dass er den vergaß. Dann zog er die Tür zu. Im Treppenhaus schaute er auf seine Taschenuhr. Seit dem Anruf waren gerade mal vier Minuten vergangen.

 

 

Neckarsteinach. So hieß der Ort also. In Neckargemünd dirigierte er sie über die Neckarbrücke. Sie waren Richtung Heidelberg unterwegs. Er trug eine Wollmütze, die er sich in die Augen gezogen hatte. Noch immer hielt er die Pistole auf sie gerichtet. Als sie Heidelberg verließen und auf die Autobahn fuhren, lag die Waffe auf seinen Knien und die Mütze war ein wenig hochgerutscht. Eine blonde Haarsträhne. Ein Nasensticker. Nicht unsympathisch.

„Und weiter?“, fragte sie in Mannheim am Hauptbahnhof.

„Rechts auf den Ring.“

Sie schien ihn aus seinen Gedanken gerissen zu haben.

„Warum hat der Idiot bloß eine Pistole unter der Theke hervorgeholt“, murmelte er vor sich hin. „Warum bloß?“

Sie musterte ihn aus den Augenwinkeln.

„Was hätte ich denn tun sollen?“

Er sah blass aus. Seine Unterlippe zitterte. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Er tat ihr leid. Sie passierten ein Schild mit der Aufschrift „Sperrbezirk“.

„Weil sich so ein läppischer Gockel infiziert hat, machen die so einen Aufstand.“

Seine Unterlippe zitterte nicht mehr. Kurz vor der Kurpfalzbrücke ließ er sie rechts ran fahren. Sie parkte vor dem still gelegten OEG-Bahnhof. Letztes Jahr  hatte hier ein Biergarten über die Sommermonate geöffnet gehabt, allerdings nur mäßig besucht. Kein Wunder, das Gelände war lieblos gestaltet. Sie wollte den Kopf drehen und ihn anschauen, doch wieder spürte sie den kalten Druck an der Schläfe.

„Kein Wort“, sagte er. „Wenn dir dein Leben lieb ist.“

Sie nickte.

„Und denk dran: Ich hab deine Autonummer“, sagte er beim Aussteigen.

 

 

Beim sechsten Versuch sprang der Lada endlich an. Es wurde höchste Zeit, dass er sich um einen neuen Wagen kümmerte. Meißner hatte schon Recht. Der Wagen war eine Schrottlaube. Und bei weitem nicht auf dem neuesten Stand der Technik. Aber das würde Lauer nie gegenüber seinem Assistenten zugeben. Während er das Neckartal entlang fuhr, musste er an den Tankstellenüberfall vor einem halben Jahr denken. Den Pächter erschossen. Die sofort eingeleitete Fahndung ohne Erfolg. Der fünfte Überfall innerhalb eines Vierteljahrs. Alle gut vorbereitet. Vier Überfälle ohne Verletzte mit der immer gleichen Täterbeschreibung. Der Täter, jung, schlank, Wollmütze, wusste Bescheid, wann ein Überfall sich lohnte. Mehrere tausend Euro jedes Mal. Lauers Handy klingelte. Er schaute auf das Display, unterdrückte Nummer. Das konnte nur sein Sohn Fabian sein, knapp 28, ewiger Student. Lauer fiel ein, dass er seinem Sohn versprochen hatte, die Kosten für eine Autoreparatur zu übernehmen, es hatte es jedoch verschwitzt, das Geld auch tatsächlich zu überweisen.

„Hallo, Fabian, nein, ich habe das nicht vergessen. Heute Abend überweise ich das Geld, versprochen. Was macht das Studium?“

Lauer wusste, dass diese Frage immer zu einem schnellen Ende des Gesprächs führte. Auch heute war dies der Fall. Er musste sich unbedingt mal wieder mit seinem Sohn treffen und mit ihm reden. In Neckarsteinach gab es niemanden, der einen Täter beschreiben konnte. Lauer tappte im Dunkeln. An der Ampel bei Schlierbach musste er halten.

 

 

Sie fuhr los. Im Rückspiegel sah sie, wie er ihr nachschaute. Dann verschwand er im Vienna. Sie kannte das Café. Einmal war sie mit Freunden dort gewesen. Sie wendete an der nächsten Ampel, fand in der Nähe vom Gewerkschaftshaus einen Parkplatz und wartete im Schnell-Imbiss. Nach einer dreiviertel Stunde, Curry-Wurst und Pommes waren längst kalt, tauchte er auf. Er hatte die Mütze abgezogen. Seine Haare waren halblang und lockig. Sie rannte aus dem Imbiss und ging neben ihm her. Er beachtete sie nicht. Vielleicht gefärbt, überlegte sie. Sie gingen den Ring entlang, vorbei am MVV-Hochhaus.

„Warum schlappst du mir nach?“

Er schaute sie nicht an.

„Es interessiert mich“, sagte sie

Vor der Moschee stapelten sich die Müllsäcke. Viele der Säcke waren aufgerissen, der Müll quoll über Gehweg und Straße. Der Streik der Müllwerker ging in die siebte Woche.

„Verschwinde!“

Er war stehen geblieben. Seine Hand verschwand in der Jackentasche.

„Du kannst die Pistole drin lassen. Ich verpfeif dich schon nicht.“

Er ging weiter, bog in die Jungbuschstraße ein, drückte eine Haustür auf, die nicht abgeschlossen war.

„Darf ich mit?“

„Nein.“

Sie folgte ihm trotzdem, er duldete es. Sie kannte sich selbst nicht mehr. Die Briefkästen waren aufgebogen. Im Treppenhaus bröckelte der Putz. Ein pinkelndes Strichmännchen grinste sie an. Die Steinstufen waren ausgetreten. Er ging voraus. Sie versuchte seinen federnden Schritt nachzuahmen. Das Treppengeländer war wacklig. Kein Wunder, einige Stäbe fehlten. Er schloss die Wohnungstür auf. Da, wo früher mal eine Glasscheibe gewesen war, war jetzt eine Sperrholzplatte. Im ersten Moment war sie schockiert, als sie die Wohnung sah. Das Innere unterschied sich in nichts vom Zustand der Straßen. Pizza-Kartons mit verschimmelten Resten, leere Joghurt- und Buttermilchbecher, aufgerissene Milchpackungen, eine Unmenge leerer Bier- und Weinflaschen, Zeitungen, schmutzige Wäsche und schmutziges Geschirr überall. In der Ecke eine Matratze mit Bettzeug, das den Zustand der Wohnung noch toppte. Heute Morgen, als sie sich in ihrem frisch bezogenen Bett geräkelt hatte, hätte sie sich vor dem Schmutz hier geekelt. Niemals hätte sie sich vorstellen können, sich auf diese Matratze zu setzen.

„Was willst du eigentlich von mir?“

Sie fand in der Küche eine angebrochene Flasche Rotwein, irgendein Fusel mit Schraubverschluss. Sie nahm einen Schluck.

„Ich hab alles so satt.“

Er verzog das Gesicht. Sie blieb einfach.

 

 

Am nächsten Vormittag fuhr sie nach Handschuhsheim. Sie wohnte noch bei ihren Eltern. Warum denn ausziehen? Bei uns hast du doch alles, das geräumige Haus, die wunderschöne Hanglage, der Wald ist nicht weit. Das Dachgeschoss haben wir doch extra für dich ausgebaut. Da kannst du schalten und walten, wie du willst. Sie sah aus dem Fenster. Nostalgische Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Dann war es wieder vorbei. Heute Morgen stimmte etwas nicht mit dem Garten. Da stand ein Baum, der gestern noch nicht da gewesen war. Was war das für ein Baum. Sie tendierte zu Buche. Sie hatte keine Lust, den ganzen Tag mit dem Baum allein zu bleiben. Sie packte einige Sachen zusammen, nur das Nötigste. Du hast hier doch alles, was du brauchst. Was willst du denn mehr?

„Ziehe aus. Macht euch keine Sorgen.“

Sie legte den Zettel neben das Telefon.

Legte den Hausschlüssel daneben, zog die Tür zu. Zog bei ihm ein, ging nicht mehr zur Uni, fühlte sich wohl in dem Schmutz. Glaubte zu Hause zu sein. Glaubte zu leben. Anfangs versuchten ihre Eltern, sie anzurufen. Sie drückte die Anrufe auf ihrem Handy einfach weg. Später wurden die Versuche zur Kontaktaufnahme seltener, wohl auch weil das Handy jetzt meistens ausgeschaltet blieb. In den Zeitungen war einige Tage ausführlich über den Überfall an der Tankstelle und dem, wie es hieß, kaltblütigen Mord berichtet worden. Sie erfuhr, dass der Überfall von Neckarsteinach der fünfte nach dem gleichen Schema war. Am Monatsersten bemerkte sie, dass ihre Eltern ihr kein Geld überwiesen hatten. Typisch, dachte sie. Was brauchte sie Geld in ihrem neuen Leben! Bis spät nachts hingen sie in Kneipen herum, dann schliefen sie bis nachmittags auf der schmuddeligen Matratze, liebten sich, zogen wieder los. Nach einer Woche verschwand er. War eines Nachmittags einfach weg. Ohne dass es vorher auch nur die Spur einer Andeutung gegeben hätte. Ohne dass sie gestritten hätten. Sie verkroch sich in der Wohnung. Fing an aufzuräumen, entsorgte den Müll. Als sie es nicht mehr aushielt, streunte sie in der Stadt herum, besuchte ihre gemeinsamen Plätze, fragte nach ihm, saß im Biergarten gegenüber vom Vienna. Sie kaufte sich jeden Morgen die Zeitung, las sie von vorne bis hinten, studierte ausführlich den Lokalteil, las jeden Polizeibericht mehrmals. Aber sie fand nichts von einem neuen Überfall auf eine Tankstelle. Unerwartet tauchte er wieder auf. Drei Tage waren vergangen. Sie fragte nach. Er schwieg. Sie war froh. dass er wieder da war. Das neue Leben konnte weiter gehen. Bis er wieder verschwand.

 

 

Der Wagen schien automatisch den Weg zu finden. Der Tankstellenüberfall vor einem halben Jahr. Die Frau des Pächters, wie sie sich an ihn geklammert hatte, als er mit Meißner die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht hatte. Erst hatte sie nur den Kopf geschüttelt, nein, das müsse ein Missverständnis sein, ihr Mann komme gleich nach Hause. Dann klammerte sie sich an ihn, ließ ihn erst wieder los, als ein etwa fünfjähriger Junge hinter ihr Mama gerufen hatte. Lauer parkte gegenüber der Tankstelle.

 

 

Sie ließ das Kaff hinter sich, die halb heruntergelassenen Rollläden, die nach verkohltem Fleisch stinkenden Gärten. Sie fuhr ziellos in der Gegend herum. Sie fuhr nirgendwohin. Wie der Adler und das Wiesel in dem Buch, aus dem Großmutter ihr früher vorgelesen hatte. Adler packt Wiesel. Wiesel beißt Adler. Ineinander verbissen fliegen sie nirgendwohin. Er war wieder mal verschwunden, tauchte nach fünf Tagen erst auf. Sie stellt ihn zur Rede. Er schweigt. Sie lässt nicht locker, fängt von Neckarsteinach an. Er schweigt. Sie sagt, sie wolle dabei sein, wolle mitmachen, wolle ihm als Komplizin nahe sein. Jeden Tag. Sie beschwört ihn. Sie bettelt. Sie droht. Sie wisse zu viel von ihm. Wenn sie damit zur Polizei gehe. Von einem Moment zum anderen wird er wütend, schlägt ihr ins Gesicht, hat plötzlich die Pistole in der Hand, drückt sie ihr an die Schläfe. Wie damals an der Tankstelle. Damals kam ihr die Szene unwirklich vor. Wie wenn sie an allem unbeteiligt gewesen wäre. Wie wenn sie alles nichts angegangen wäre. Jetzt in dieser heruntergekommenen Wohnung hat sie Angst. Damals in Neckarsteinach war es ihr egal, wenn er abgedrückt hätte. Jetzt hat sie Todesangst. Er ist unberechenbar, denkt sie. Gefährlich. Dann bricht es aus ihm heraus. Dass er den Kick brauche. Dass er nie jemanden geliebt habe. Dass er es nicht vorhabe. Niemals. Dass sie nicht so naiv sein solle. Dass sie sich doch vorstellen könne, wo er sich aufhalte, wenn er weg sei. Dass sie gefälligst nicht so naiv sein solle. Dass sie nicht die einzige sei. Dass er den Kick brauche. Den könne er haben, sagt sie. Jetzt. Sofort. Er sagt, er müsse nachdenken. Die Pistole lag vor der Matratze. Sie wusste nicht, wie sie dahin gekommen war. Sie fuhr ziellos durch die Gegend.

 

 

Ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo Lauer den Wagen abgestellt hatte, stand eine kleine Gruppe Männer bei den Zapfsäulen. Zwei Frauen standen mit einem Mann auf der anderen Seite und schauten zur Tankstelle. Lauer überquerte die Straße. Meißner löste sich aus der Gruppe.

„Schlimme Geschichte.“

„Schlimm genug“, stimmte Lauer zu.

Der Assistent brachte den Kommissar auf den letzten Stand der Dinge.

„Dieses Mal waren sie zu zweit. Ansonsten die gleiche Masche. Pistole. Wollmütze. Der neue Pächter händigt widerstandslos das Geld aus. Hat die Tankstelle erst vor einigen Wochen übernommen. Toller Einstand. Alles geht rasend schnell. Nach keiner Minute sind sie weg. Unmittelbar danach hört der Pächter vor der Tankstelle einen Schuss. Es dauert einige Minuten, bis er sich ins Freie traut. An der Zapfsäule findet er das Opfer. Männlich, Mitte 20, blondes lockiges Haar, Nasenpiercing, Identität noch unbekannt. Tod durch Kopfschuss.“

 

(Ein überarbeitete Fassung ist erschienen in: "Mord im Quadrat".)

 

 

 

 Walter Landin, Mai 2006

 

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