Der Verlust

Ich entscheide mich für einen Novembernachmittag, neblig, kalt, ungemütlich. Ich nehme einen Handschuh, lege ihn auf die vorletzte Stufe einer Steintreppe. Der Handschuh könnte ziemlich neu gewesen sein, kaum getragen, fast möchte ich die Hand ausstrecken nach dem Handschuh, fast möchte ich das zarte, weiche Leder fühlen. Ich lasse eine Frau den Handschuh vermissen, den linken, denn ich habe mich entschieden, dass die Frau den linken Handschuh verloren hat. Ich könnte sie den rechten wegwerfen lassen, froh, nicht mehr an den Mann erinnert zu werden, der ihr die Handschuhe geschenkt hat, damals, vor noch gar nicht langer Zeit. Ich könnte sie den verbliebenen Handschuh in die oberste Schublade ihrer Kommode zu den Seidentüchern legen lassen. Es könnte sein, dass sie den Handschuh ab und zu aus der Kommode nimmt, dass sie den Geruch des Leders einatmet, dass sie mit dem Finger über das weiche Leder streicht, so wie ich den Impuls verspürte, als ich den Handschuh auf der Steintreppe liegen sah. Es könnte sein, dass sie die Schublade mit einem Seufzer schließt. Ich könnte sie den rechten Handschuh auf dem Speicher in der hintersten Ecke verstauen lassen, zugänglich erst nach diversen Umräumaktionen, in der Hoffnung, den verlorenen Handschuh durch einen nicht näher bezeichneten Zufall wiederzufinden. Es könnte sein, dass sie keine Ahnung hat, wo der Handschuh ihr abhanden gekommen sein könnte. Es könnte sein, dass sie ahnt, dass der Verlust mit diesem Novembernachmittag zusammenhängt, an dem sie mehr als nur den Handschuh verlor. Ich könnte sie den Verlust als Befreiung empfinden lassen. Ich könnte sie verzweifeln lassen. Es könnte sein, dass sie die Handschuhe auszog, als sie nach dem Handy suchte, nach einem Taschentuch kramte, nicht um Tränen abzuwischen, sondern um sich die Nase zu schnäuzen. Gerade, als ich sie ihr Handy finden oder das Taschentuch aus der Handtasche ziehen lasse, könnte sie den Handschuh verloren haben. Es könnte sein, dass sie den Verlust erst Tage später bemerkte. Es könnte sein, dass sie noch am gleichen Abend den Weg zurückging, dass sie versuchte sich an jeden Schritt, an jede Wendung, jedes Stehen bleiben vor einem Schaufenster zu erinnern. Mag sein, dass der verlorene Handschuh auf der Steintreppe gar nicht der Frau gehörte. Mag sein, dass sie keinen Verlust erlitt. Mag sein, dass die Geschichte gar nicht an einem Novembernachmittag, neblig, kalt, ungemütlich, spielt.