Eins
Montag, 15. Februar 1954
„Das Glück ist ein Vogel.”
Hat ihre Mutter immer gesagt.
„Kommt kurz geflattert.
Festhalten kannst du es nicht.”
Warum muss sie jetzt daran denken?
Sie liegt auf dem Bett. In ihrem Kopf ein Sirren. Sie versucht,
die Augen aufzuhalten. Obwohl sie nichts sieht. Nur Dunkelheit.
„Das Glück ist ein Vogel.”
Wann war sie glücklich? So
richtig? Bei der Geburt ihrer Tochter? Aber nur einen kurzen
Augenblick. Als das hilflose, verklebte Bündel zum ersten Mal in
ihrem Arm lag. Dann der Gedanke an Georg, ihren Mann. Der Vater
des Mädchens, der seine Tochter nie sehen würde. Drei Tage vor
der Geburt der Brief.
„Gefallen für Führer, Volk und
Vaterland.“
Das Glück? Hat einen Bogen um sie
gemacht. Ihr ganzes Leben lang. Sie muss durchhalten. Darf nicht
aufgeben. Muss die Augen offen halten. Aber sie blickt in
Dunkelheit. Ins Schwarze.
Vorhin in der Küche.
„Warum musst du jeden Abend
weggehen, Anni?”
Die Vorwürfe ihrer Mutter.
„Warum kannst du nicht einen
Abend zu Hause bleiben?”
„Nicht schon wieder, Mutter.
Darüber haben wir so oft schon geredet. Und außerdem ist
Fasching. Was habe ich denn gehabt vom Leben bisher?”
Sie fährt sich mit der Bürste
durch die Haare.
„Denk an Ursel.”
„Die wird zehn Jahre, Mutter. Ein
großes Mädchen. Und außerdem bist du da. Gönnst du mir das
bisschen Vergnügen nicht?”
Frau Ruh erwidert nichts auf das,
was ihre Tochter gesagt hat. Sie spürt, dass es dann Streit geben
wird. Und den will sie nicht.
„Ich geh nachher zur Christa. Die
will sich einen Kinderwagen kaufen, einen gebrauchten, für den
kleinen Ferdinand.”
Der Bankert, das uneheliche Kind,
das keinen Vater hat,
denkt Frau Ruh. Zustände sind das, aber sie sagt nichts zu ihrer
Tochter.
„Und danach gehen wir noch aus,
Fasching, Mutter, schau nicht so!”
Auf dem Küchenschrank liegt der
Schokopilz. Der liegt seit gestern da. Christa hat ihn
mitgebracht. Für jeden einen. Für sie. Für ihre Mutter. Für
Walter und Ernst, ihre Brüder. Und einen für Frau Becker die
Nachbarin, die so scharf ist auf Schnapspralinen. Alle haben ihre
Praline gleich gegessen. Gestern. Walter sogar zwei. Weil sein
Bruder nicht da gewesen ist. Und Walter die Praline geschmeckt
hat.
Am Sonntagnachmittag, als Christa
sie abgeholt hat für die Bambi Bar. Wie jeden Sonntag. Hat
geschmeckt, die Praline. Die Süße der Schokolade. Die Schärfe
des Kirschwassers, das im Hals brennt. Anni hat ihre Praline
vorsichtig aufgebissen, hat den Schnaps herausgesaugt, im Mund
hin- und hergewälzt, runtergeschluckt, dann die Schokohülle auf
der Zunge zergehen lassen. Köstlich. Nur ihre Mutter hat die
Praline nicht gegessen. Hat sie auf den Küchenschrank gelegt.
Ganz hinten neben die Dose mit dem Haushaltsgeld. Sie wollte sie
Ursel geben.
„Kommt nicht infrage”, hat Anni
gesagt. „Keinen Alkohol für das Kind.”
Jetzt fällt Annis Blick auf die
Praline. Sie schaut ihre Mutter an. Die nickt.
„Ich mach mir nichts draus.
Außerdem vertrage ich den Zucker nicht.”
Anni steht vom Tisch auf, greift
nach der Praline, dreht sie hin und her, begutachtet sie, als
wolle sie abwägen, ob sie sich die Praline noch leisten kann. Sie
hat zugenommen in den letzten Monaten, bestimmt fünf Kilo.
„Du musst mehr auf dich achten”,
hat ihre Freundin Christa zu ihr gesagt. „Sonst gehst du
auseinander wie eine Dampfnudel.”
„Die schmeckt so gut, die Figur
ist mir egal”, sagt Anni vor sich hin und führt die Praline zu
ihrem Mund. Flocki, der Spitz, steht neben ihr, wedelt mit dem
Schwänzchen und hechelt. Speichel tropft dem kleinen Hund aus dem
Maul. Anni hält inne und wendet sich dem Hund zu.
„Du Bettelhund, du. Ich sollte
dir nichts geben, aber wie du mich anschaust ... Wer kann dir
da widerstehen? Also gut, ein Stückchen Schokolade fällt ab für
dich. Aber du musst warten.”
Jetzt beißt Anni die Praline an
und saugt. Sie schaut ungläubig. Dann verzieht sie den Mund und
spuckt alles aus.
„Was ist das”, ruft sie. „Das
schmeckt widerlich.”
Sie riecht an der angebissenen
Praline.
„Wie das riecht!”
Sie hält ihrer Mutter die
angebissene Praline hin, die riecht und verzieht das Gesicht.
„Das riecht seltsam”, sagt die
alte Frau. „Spuck alles aus.”
Anni spuckt noch einmal aus. Dann
wirft sie die Praline in hohem Bogen weg, dem Spitz direkt vor die
Füße. Der Hund, der das Ausgespuckte schon aufgeleckt hat,
stürzt sich auf das weggeworfene Stück Praline und schlingt es
mit einem Bissen hinunter. Anni setzt sich an den Küchentisch,
rückt sich den Spiegel zurecht, den sie vorhin aufgestellt hat.
Sie nimmt die Haarbürste, fängt an, sich zu frisieren. Aber sie
ist erst ein-, zweimal durch ihre Haare gefahren, als sie die
Bürste weglegt.
„So was von bitter, widerlich
bitter.”
Anni steht auf, greift sich an den
Hals.
„Wie das gerochen hat! Und dieser
Geschmack im Mund.”
Sie schwankt nach links und
schwankt nach rechts, dreht sich um ihre eigene Achse, wedelt mit
den Armen in der Luft.
Ihre Mutter springt auf, legt ihre
Hände an die Schläfen und sagt: „Nein, nein, nein.” Und: „Oh
Gott! Oh Gott!”
Sie schiebt Anni den Stuhl hin.
„Setz dich", sagt sie. „Ich
mach dir einen Kamillentee. Den trinkst du. Dann wird es besser.”
Frau Ruh holt die Teekanne,
löffelt den Tee hinein, greift nach dem Wasserkessel auf dem Herd
und gießt den Tee auf. Sie lässt kurz ziehen, holt das Teesieb
aus der Schublade und gießt Anni eine Tasse ein.
„Hier trink das!”
Anni nippt am Tee, verzieht das
Gesicht, schüttelt den Kopf.
„Mir ist schlecht.”
„Anni, dann nimm einen Schluck
vom Weinbrand.”
Sie holt die Mariacron-Flasche aus
der guten Stube und reicht ihrer Tochter die Flasche und ein
Schnapsglas. Die Flasche rutscht Anni aus der Hand und fällt auf
den Boden, ohne zu zerbrechen.
Was
für ein Glück, denkt ihre Mutter.
„Mir ist schlecht, Mutter. Ich
muss mich hinlegen.”
Sie steht auf, ihr ist schwindlig,
sie hält sich mit beiden Händen am Küchentisch fest.
„Ei, Mutter, wie wird mir? Ich
seh nichts mehr, ich werd blind. Hilf mir!”
Frau Ruh steht unbeweglich neben
dem Küchentisch, die Hände an den Schläfen. Sie sieht den
Spitz, der japst, sich um die eigene Achse dreht. Wieder und
wieder. Wie ein gut einstudiertes Kunststück sieht das aus.
Bühnenreif, denkt die alte Frau. Dann bleibt Flocki liegen, zuckt
noch mit den Beinen und liegt still da. Annis Mutter erwacht aus
ihrer Erstarrung.
„Nein, nein, nein. Oh Gott! Oh
Gott!”
Sie geht auf ihre schwankende
Tochter zu, greift nach ihrem Arm. Das ist nicht einfach. Die
zappelt mit den Armen, jammert, schreit.
„Ich kann nichts sehen. Mutter,
hörst du? Verstehst du, was ich sage? Ich bin blind!“
Endlich bekommt sie Annis rechte
Hand zu fassen.
„Blind, Mutter! Blind!”
Sie zieht Anni zu sich heran, legt
ihren Arm um sie, dirigiert sie mit kleinen Schritten aus der
Küche. Anni sackt ihn sich zusammen. Der alten Frau fällt es
schwer, ihre Tochter vor einem Sturz zu bewahren. Mit großer
Anstrengung zieht sie Anni hoch, dirigiert sie ins Schlafzimmer,
legt sie aufs Bett. Aus dem Küchenfenster ruft sie nach Ursel,
die auf der Straße spielt. Die kommt sofort gelaufen, stürmt die
Treppe hoch. Sie empfängt das Mädchen im Flur, die Küchentür
hat sie zugezogen. Es soll Flocki nicht sehen. Sie weiß, wie das
Mädchen an dem Hund ihres Sohnes hängt.
„Was ist, Oma?”
„Lauf zu Christa und sag ihr, sie
soll kommen. Schnell.”
„Ist was passiert? Sag, was ist
passiert?”
„Nichts Schlimmes. Deiner Mutter
geht es nicht gut. Frauensachen, du weißt.”
Ursel nickt, obwohl sie nicht
wirklich versteht. Sie dreht sich um und will loslaufen. Tante
Christa wohnt grad ein paar Straßen weiter.
„Und schau unten beim Kiosk
vorbei. Die sollen einen Arzt rufen. Die haben Telefon.”
„Mach ich”, sagt Ursel und
spurtet los. Den Gedanken, dass Schlimmes passiert ist, verdrängt
sie.
Jetzt ist es ruhig in Annis Kopf.
Das Sirren ist verschwunden. Es fehlt ihr. Sie hat Angst. Die
Dunkelheit ist undurchdringlich. Da ist es egal, ob du die Augen
aufreißt oder ob du sie schließt.
„Das Glück ist ein Vogel.”
Ihre Mutter hat nicht recht. Das
Glück ist kein Vogel. Das Glück ist ein Nichts. Schwarze
Dunkelheit. Stille. Die Augen fallen Anni zu. Sie wehrt sich nicht
mehr.
(Copyright:
Worms Verlag, Worms 2020)